Eine Tour zu Stationen mit aktuellem Bezug zum Themen Flucht und Migration. Der Schwerpunkt liegt auf den Geflüchteten, die Unna in den letzten Jahrzehnten und Jahren bis zum heutigen Tag erreicht haben und noch erreichen. Die Tour besteht aus Stationen im Zentrum und in einigen Stadtteilen Unnas, die man am besten mit dem Fahrrad erreicht.
Autor: Werkstatt im Kreis Unna
24 Stationen
Nr. 1 Stadt Unna Rathaus (Integrationsbeauftragter)
Rathausplatz 1, 59423 Unna, DE
Der Integrationsbeauftragte der Stadt Unna:
»Es gibt nicht nur einen Klimawandel, auch der Wandel in einer Gesellschaft vollzieht sich permanent…«!
Cengiz Tekin erklärt die Aufgaben eines/einer kommunalen Integrationsbeauftragten und spricht über seine Tätigkeit und Erfahrungen in Unna
Integrationsbeauftragte gibt es auf Bundes- Landes- oder Kommunalebene in Deutschland. Früher (seit 1978 bereits auf Bundesebene) hießen sie »Ausländerbeauftragte«. Das Amt des oder der Integrationsbeauftragten für den Bund ist im Aufent-haltsgesetz festgelegt, für die Integrationsbeauftragten der Länder und Kommunen gelten entsprechende Gesetze.
Als Integrationsbeauftragte/r wird man nicht gewählt, son-dern durch Politik und Verwaltung »bestellt« – oder anders ausgedrückt: Bund, Land und Kommunen können eine Person des Vertrauens, die sich mit entsprechenden Qualifikationen und Qualitäten für dieses Amt bewirbt, als Angestellte einstel-len.
In der Stadt Unna gibt es die Stelle als Integrationsbeauftragte/r seit 2017. Cengiz Tekin, der selbst eine Migrationsge-schichte hat, ist der erste Migrationsbeauftragte der Stadt und in dieser Funktion seitdem »im Amt«.
Allgemein haben Integrationsbeauftragte die Aufgabe, sich um die Belange von zugewanderten Menschen zu kümmern. Gemeint sind nicht nur Geflüchtete, sondern auch Zugewan-derte aus EU-Staaten und anderen Ländern, ganz gleich aus welchen Gründen (Arbeit, Ausbildung, Familie usf.) sie einge-wandert sind. Im Vordergrund steht ihre gesellschaftliche Teilhabe.
Cengiz Tekin erläutert seine Aufgaben und erzählt von seiner Arbeit vor Ort.
Das komplette Interview können Sie hier hören oder lesen: https://www.fluchtwege-unna.de/integrationsbeauftragte-der-stadt-unna
Nr. 2 Stadt Unna Rathaus (Integrationsrat)
Rathausplatz 1, 59423 Unna, DE
Der Rathausvorplatz mit Blick auf das Rathaus markiert die Station des Integrationsrats der Stadt Unna, denn das Rathaus ist der Tagungsort dieses demokratischen politischen Gremiums.
Die Aufgabe des Integrationsrates ist es – kurzgefasst – die Belange aller zugewanderten ausländischen Menschen in Unna gegenüber der Politik, der Verwaltung und der Öffentlichkeit zu vertreten. Anders als das Kommunalparlament bzw. der Unnaer Stadtrat kann der Integrationsrat jedoch keine rechtsverbindlichen Entscheidungen fällen. So ist es in der Gemeindeordnung, also der Kommunalverfassung, festgelegt. Er hat vielmehr eine beratende Funktion für zum Beispiel die politischen Ausschüsse, Fraktionen und die Amtsträger der Stadt.
In Unna besteht der Integrationsrat aus 12 gewählten Mitgliedern. Hinzu kommen fünf Vertreter*innen des Stadtrates. Wahlberechtigt für den Integrationsrat, der immerhin mehr als zehn Prozent der Unnaer Bevölkerung repräsentiert, sind alle Einwohner, die einen ausländischen Pass besitzen und am Wahltag volljährig sind. Diese müssen seit mindestens sechs Wochen in Unna ihren Hauptwohnsitz angemeldet haben. Auch Bürger*innen, die neben der deutschen auch eine zweite Staatsangehörigkeit besitzen, sind wahlberechtigt. Somit sind in Unna vor allem EU-Bürger*innen und Menschen mit türkischer Nationalität zur Wahl zugelassen, aber auch alle Geflüchteten mit Aufenthaltstitel, zum Beispiel aus Syrien, oft aus dem Irak oder Afghanistan. Seit dem Frühjahr 2022 sind auch Geflüchtete aus der Ukraine wahlberechtigt, wenn sie sich in Unna angemeldet haben. Die wählbaren Vertreter*innen des Integrationsrates besteht im Grunde aus der gleichen Gruppe von Menschen, allerdings müssen sie mindestens drei Monate in Unna wohnen. Gewählt wird natürlich in freier, gleicher und geheimer Wahl jeweils parallel zu den Kommunalwahlen in Unna bzw. im Land Nordrhein-Westfalen.
Was macht der Integrationsrat nun genau? Er kümmert sich beratend oder durch Initiativen um das wichtige und umfassende Thema der Integration von ausländischen Menschen in Unna. Auf seinen Antrag hin werden Anregungen oder Stellungnahme dem Stadtrat oder einem Ausschuss vorgelegt. Diese müssen dort vorgetragen und behandelt werden. Dabei kann es um Aspekte des kulturellen Dialogs und der Vielfalt in der Stadt und seinen Quartieren gehen, wie z.B. die Schaffung eines Kulturzentrums. Er kann Maßnahmen und Projekte gegen Diskriminierung, Rassismus, Rechtsextremismus oder Fremdenfeindlichkeit initiieren. Hinzu kommen Anträge zur Verbesserung der Sprachförderung, der interkulturellen Bildung in den Kindergärten und Schulen sowie Vorschläge zur Verbesserung der Wohn-, Arbeits- und Ausbildungssituation für Migrant*innen. Es geht also um ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Deutschen und Menschen anderer Nationalität. Es geht um Toleranz, Akzeptanz und Respekt im politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben der Stadt Unna.
Natürlich gibt hin und wieder Kritik. Weniger an den Aufgaben oder den Inhalten der Gremienarbeit des Integrationsrates. Sondern mehr daran, dass ausländische Mitbürger*innen in der Kommune zu Einfluss haben würden. Das stimmt in gewisser Weise, denn tatsächlich können EU-Bürger*innen in Unna gleich zwei Mal wählen. Zum einen dürfen sie an der Kommunalwahl teilnehmen und eine Partei bzw. Kandidaten für den Rat wählen, zum anderen auch ihre Interessen durch die Wahl zum Integrationsrat wahrnehmen. Aber dieses Recht besitzen Deutsche in Unna auf andere Weise auch. Nur vergessen sie das manchmal. Sie können neben der Kommunalwahl auch andere Beiräte der Kommune oder auch im Kreis wählen. Zum Beispiel den Behindertenbeirat.
Wer nicht aus Unna oder aus Nordrhein-Westfalen kommt, wird vielleicht den Begriff „Integrationsrat“ noch nie gehört haben und meinen, hier würden die Uhren der demokratischen Mitbestimmung von Migrant*innen anders ticken. Aber so ist das nicht. Andernorts in Deutschland heißen sie nur etwas anders – wie zum Beispiel „Ausländerbeirat“ oder „Ausländerrat“. Die Aufgaben und Funktionen sind hingegen sehr ähnlich. Ob nun in Stuttgart, Schweinfurt oder Stralsund.
Nr. 3 Deutsch-Italienische Gesellschaft e.V.
Magnolienweg 24, 59425 Unna, DE
Denkmal Friedrich Grillo und italienische Einwanderung
Bei Station 21 der Fluchtwege-Rundgänge wurde dem italienischen Eis ein Denkmal gesetzt. Nun stehen Sie hier vor einem echten Denkmal. Zu Ehren Friedrich Grillos, Nachfahre einer italienischen Einwandererfamilie. Friedrich Grillo war ein Unternehmer und „Macher“ – so etwas wie ein Steve Jobs oder Elon Musk des 19. Jahrhunderts für das Ruhrgebiet. Früher nannte man solche Leute „Industriekapitäne“. Zu Grillo später mehr.
Die italienische Einwanderung hat eine lange und kontinuierliche Geschichte in Deutschland. Besonders seit etwa 1850 kamen viele Menschen aus Norditalien. Damals erlebte die Industrie dort einen Aufschwung. Zudem wurde die Landwirtschaft mechanisiert und viele Landwirt*innen und Handwerker*innen wurden arbeitslos. Manche zogen in die entstehenden italienischen Industriestädte, nicht wenige machten sich auf den Weg über die Alpen.
Am bekanntesten ist hingegen die Einwanderung vieler Italiener*innen als sogenannte „Gastarbeiter“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Die deutsche Regierung hatte 1955 das erste Anwerbeabkommen für ausländische Arbeitskräfte mit Italien geschlossen. Die deutsche Wirtschaft, vor allem die Industrie, brauchte dringend Arbeitskräfte. Im Krieg waren fast sechs Millionen Deutsche im arbeitsfähigen Alter umgekommen, die nun in der jungen Bundesrepublik fehlten. Das war nicht der einzige Grund. Viele Deutsche wollten sich auch nicht mehr im Stahl oder in der Kohle arbeiten. Das war nicht mehr attraktiv. Und auch die Industrieunternehmen hatten ihre Gründe: Die deutschen Arbeitnehmer*innen und Gewerkschaften waren anspruchsvoll in Sachen Lohnerhöhungen. Und so schoben die Unternehmen zusammen mit dem jungen umtriebigen „Minister für besondere Aufgaben“, namens Franz-Josef Strauß, eine „billige“ Arbeitskräftewanderung aus etlichen Mittelmeerländern an. Allen voran und eben zuerst: Die Italiener*innen! Und diese kamen. Vor allem aus den bitterarmen Regionen des Südens, aus Sizilien oder aus Apulien. Insgesamt sollten es von dort rund vier Millionen Menschen werden, die zeitweise in Deutschland arbeiteten. In der Montagindustrie – aber auch in der Chemie und der Bauwirtschaft.
Wie viele Italiener*innen seit 1955 nach Unna zuwanderten lässt sich nur schwer ermessen, zumal die Stadtgrenzen damals noch ganz andere waren als heute. Auch der Kreis Unna wurde erst 1975 aus der Taufe gehoben. Zudem waren spätesten seit den späten 1960er Jahren Wohn- und Arbeitsorte nicht mehr dieselben. Viele „Gastarbeiter“ waren in den 1950er Jahren nach Unna gekommen, um in der Metallindustrie oder „auf dem Pütt“ zu arbeiten. Sie bezogen auch hier in Unna Quartier. Einige arbeiteten außerhalb der Stadt – zum Beispiel in Bönen, andere vor Ort. Mit den Zechenschließungen wanderte die Arbeit für Bergleute von Unna fort. Damit verließen auch die Kumpels aus Italien den Pütt „Alter Hellweg“, „Massener Tiefbau“ oder „Königsborn“ (eher in Kamen und Bönen gelegen) und „pendelten“ – wie viele andere ihrer Kollegen auch – zu den noch verbleibenden westlichen Revieren oder nach Hamm.
Die Zahl der italienischen Gastarbeiter*innen bis in die 1980er Jahre hinein lässt sich für Unna nur schätzen. Vielleicht waren es fünf oder sechstausend. Die meisten verließen Unna wieder, manche blieben für immer. Die meisten haben längst auch die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen. Heute, mit Stand 2022, leben im Kreis etwa 1.700 und in Unna etwa 350 Italiener*innen. Erfasst sind nur jene, die ausschließlich den italienischen Pass besitzen. Einwanderinnen aus der Zeit der „Gastarbeiter“ sind darunter nur noch wenige – die meisten sind in den letzten zwanzig Jahre aus ganz unterschiedlichen Gründen als EU-Bürger*innen zugezogen.
Wo und wie wohnten seit Mitte der 1950er Jahre die Italienerinnen in Unna? Nun, zunächst kamen die vorwiegend männlichen Zugewanderten in firmeneigenen Unterkünften unter. Das waren oft mehr schlechte als rechte „Behausungen“ auf oder am Rande der Arbeitsstätten. Betriebe brauchten nur Bett, Tisch, Stuhl und Schrank bereitstellen – als gesetzliche Mindestanforderung in einer Stockbettenunterkunft. Eine Privatsphäre gab es kaum. Sie signalisierten stattdessen: „Ihr sollt in Deutschland arbeiten – aber nicht heimisch werden!“. Offiziell hieß es, mit dieser billigen Kasernierung wolle man es „den Italienern“ ja nur leichter machen, Geld zu sparen, was dann ihren Familien in Italien zu Gute käme. Und richtig, viele schickten auch eine Menge Geld in die Heimat. Aber, wie sagte es einst der Schriftsteller Max Frisch: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen!“ – und so blieben ab den 1960er Jahren dann mehr „Gastarbeiter“ vor Ort – viele holten ihre Familien nach Unna. Die unwürdigen Massenunterkünfte wurden glücklicherweise Geschichte und die Italiener*innen zogen in Wohnungen um. Zunächst in die damals noch meist unsanierten Altbauten in Königsborn oder Massen - teilweise noch mit „Etagenklos“. Deutsche zogen aus diesen Gegenden nämlich verstärkt fort in die Plansiedlungen der Stadt – in moderne „Hochhäuser“ in der Gartenvorstadt, in die Neubauviertel von Königsborn mit großen Parkplatzen und eigenen Einkaufszentren, aus denen „die Deutschen“ übrigens seit den 1990er Jahre auch wieder fortzogen um erneut für Migrant*innen Platz zu machen. Wer mehr Geld hatte baute auch einen schicken Bungalow. Der frei gewordene Wohnraum ging jedenfalls an „die Gastarbeiter“.
Maria, eine Deutsch-Italienerin, die als Kleinkind mit ihren Eltern ins Ruhrgebiet und schließlich nach Unna kam, erinnerte sich an diese Zeit: „Wir waren damals eben Ausländer. Nicht wirklich akzeptiert und irgendwie gehörten wir nicht richtig dazu, obwohl ich selbst keine blöden Sprüche oder so etwas erlebt habe.“ Heute ist das anders. Maria findet: „Italiener gelten ja irgendwie nicht mehr als Ausländer. Vielleicht liegt das an der EU. Ich habe selbst nach meiner Heirat einen deutschen Namen – und wenn ich erzähle, dass ich eigentlich Italienerin bin, glaubt man mir das erst gar nicht.“ Und weiter meint sie: „Heute sind nicht wir Italiener die Ausländer – das sind mehr die Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan. Und wer eine dunkle Hautfarbe hat. So ändern sich die Zeiten eben.“
Zurück noch einmal zu Friedrich Grillo. Dessen Familie, wahrscheinlich seine Großeltern, war im 18. Jahrhundert nach Deutschland eingewandert. Sie stammte wohl aus der Lombardei in Norditalien und gehörte zu den „Waldensern“, einer kleinen protestantischen Gemeinschaft, die noch bis ins 19. Jahrhundert hinein im erzkatholischen Italien diskriminiert und verfolgt wurden. Die Grillos waren also Religionsflüchtlinge. Sie fanden in Deutschland Zuflucht. Friedrich Grillo und sein Bruder erbten den Eisenwarenhandel der Familie. Sie erkannten damals die Zeichen der Zeit, investierten in Unternehmen der Montanindustrie – auch in Unna. Und sie wurden reich. Sehr reich – und einflussreich. Friedrich Grillo wurde aber nicht nur ein erfolgreicher Unternehmer, sondern schließlich auch Mäzen in Sachen Bildung, Kultur und neuen sozialen und technischen Entwicklungen.
Denken Sie also an die Entwicklung der italienischen Einwanderung und Kultur in und für diese Stadt, wenn Sie Gast sind auf dem Fest „Un(n)a Festa Italiana“, einem der größten italienischen Stadtfeste nördlich der Alpen.
Nr. 5 Portugiesisches Kulturzentrum
Bornekampstraße 5, 59423 Unna, DE
Das Portugiesische Kulturzentrum Unna
Die portugiesische Gemeinschaft ist in Unna stark vertreten. Das „Centro Cultural Portugues de Unna“ bringt mit verschiedenen Veranstaltungen auch das portugiesische Lebensgefühl nach Unna. Und dies nicht nur für Menschen mit Wurzeln in Portugal; die Veranstaltungen stehen allen Interessierten offen. Die Angebote umfassen regelmäßige Treffen und Austausch, Feste und Veranstaltungen, Konzerte sowie die Beteiligung an den „Interkulturellen Wochen“.
Nr. 6 Erstaufnahmeeinrichtung des Landes NRW
Lippestraße 37, 59427 Unna, DE
»…ist das riesig!«
Elena erzählt Euch ihre Geschichte
Elena Bybotschkin reiste in den 1990er Jahren mit ihren Eltern als Kind aus der russischen Provinz nach Deutschland. Als sogenannte »Russlanddeutsche« war ihre erste Station das »Lager« in Unna-Massen, wo sie mit drei Koffer anka-men.
Elenas ersten Erfahrungen in Deutschland waren unge-wohnt, fremd und auch, wie sie sagt: »…für mich sehr angst-einflößend.« Vieles war beeindruckend und selbst ein Ein-kaufszentrum hinterlässt einen besonderen Eindruck: »Wo ich so davorstand und gedacht habe, boah, ist das riesig.« Elena kann viele schon zuvor ausgewanderte Verwandte in die Arme schließen – das scheint für sie ein wichtiger Anker in Deutschland gewesen zu sein – neben ihren Eltern selbst-verständlich, die ihr ein besseres Leben ermöglichen wollten. Ihr Vater sprach Klartext: »… Deutsch ist Zugang zur Gesell-schaft, lernt was, haut rein, hier könnt ihr, habt ihr supervie-le Chancen, was zu werden.«
Kein einfacher Weg für die ehemalige »Einser-Schülerin« aus Russland, die nun in der Schule ganz von Vorne anfangen muss und sich manchmal lieber unsichtbar machte: »Ich bin schon häufig aus der Klasse weggerannt die erste Zeit. Die mussten mich dann schonmal fleißig alle suchen. Da habe ich mich versteckt.« Aber Elena schaffte die Hürden von Sprache und Schule, trotz einer Behinderung. Nach einer Berufsaus-bildung lebt und arbeitet sie als Therapeutin in Unna. Und sie mag die Stadt gerne.
Ob sie nach Russland zurückkehren würde? Ja, für eine Reise vielleicht – auch um ihre Muttersprache wieder zu sprechen und auf den neusten Stand zu bringen. Aber für mehr oder längere Zeit wohl doch nicht. Hier haben sich E-lenas Ansichten und Ansprüche was Freiheit und Demokratie angeht geändert: »Ich möchte da nicht hin, weil die Werte die ich jetzt vertrete, passen einfach nicht mit denen über-ein, die da gewünscht sind.«
Das komplette Interview können Sie hier hören oder lesen: https://www.fluchtwege-unna.de/interview-sp%C3%A4daussiedlerin-russland
Nr. 7 Ägyptische-Koptisches Gemeinde und Kirche
Buderusstraße 46, 59427 Unna, DE
Massen Nord, Kopt*innen und die koptische Gemeinde
Diese Station erzählt die Geschichte einer recht neuen Gruppe von Einwander*innen nach Deutschland und Unna: Den Kopt*innen. In der Mehrheit handelt es sich heute dabei um Geflüchtete. An dieser Stelle stehen Sie übrigens direkt vor der Kirche der Koptische-orthodoxen Gemeinde. Diese Kirche ist der Maria und dem Philopator Mercurius, einem Heiligen der orthodoxen Christenheit aus Ägypten gewidmet. Es gibt sie seit 2014. Zuvor war sie ab 1963 die Kirche der katholischen St. Hedwig-Gemeinde gewesen.
Vielleicht können Sie nicht so viel mit dem Begriff „koptisch“ anfangen. Nun, damit werden die Angehörigen der christlichen Minderheit in Ägypten bezeichnet, die wiederum zu großen Teilen der Koptisch-orthodoxen Kirche angehören. Das Wort „Kopte“ kommt aus dem Griechischen und ist einfach die um die Vorsilbe verkürzte Form des Wort „Ai-gyptos“ und bedeutet einfach: „Ägypter“. Und tatsächlich sind Kopt*innen nichts anderes als Ägypter*innen, die neben ihrer christlichen Religion auch eine von den Muslim*innen des Landes etwas andere Kultur leben. Kopt*innen beanspruchen auch häufig in direkter Linie von den alten Ägyptern abzustammen. Das mag durchaus stimmen. Zumal die koptische Sprache, die in Ägypten noch bis in 17. Jahrhundert im Alltag gesprochen wurde und noch heute im Gottesdienst gelegentlich Verwendung findet, die letzte Form der altägyptischen Sprache darstellt – trotz aller griechischen Einflüsse. Eine besondere ethnische Gruppe stellen die Kopt*innen aber nicht dar. Sie sprechen wie die muslimischen Ägypter*innen die arabische Sprache im Alltag. Heutige Ägypter*innen, ganz gleich ob koptisch oder islamisch, als „Araber“ zu bezeichnen würde beide Gruppen jedenfalls vehement zurückweisen. Beide sehen sich als „Kinder des Nils“.
Die koptische Kirche ist eine der ältesten christlichen Religionsgemeinschaften. Älter als die römische-katholische Kirche. Und sie haben einen eigenen Papst. Während der römisch-katholische Papst sich in der Nachfolge des Apostel Petrus sieht, gilt der koptische Papst als Nachfolger des Evangelisten Markus.
Koptische Christ*innen lebten in Ägypten schon immer. Bis ins siebte Jahrhundert hinein, war Ägypten nahezu vollständig koptisch – wobei es ständig zu heftigen theologischen und politischen Auseinandersetzungen und Machtspielen mit der römischen und vor allem der griechisch-orthodoxen Kirche in Konstantinopel gab. Die Kopt*innen hatten die Religionsstreitigkeiten derart satt, dass im Zuge der Eroberung Ägyptens durch arabische Heere ab dem Jahr 640 die Mehrheit von ihnen einfach zum Islam übertrat. Manche aus Opportunismus in Bezug auf die neue Herrschaft, viele aus Überzeugung. Übrig blieb gleichwohl immer noch eine nennenswerte Zahl von Kopt*innen (heute sind es immer noch gut zehn Prozent) , die unter dem Islam dann Zeiten der Verfolgung und Diskriminierung erlebten, aber auch Epochen, in denen sie anerkannt und frei leben konnten. Bisweilen bildeten sie wichtige Eckpfeiler in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft ihres Landes.
Die Zeit des türkisch-osmanischen Kolonialreichs, das auch Ägypten umfasste, war von einer gewissen Toleranz gegenüber den koptischen Gemeinden geprägt. Und es klang sehr vielversprechend, als in die erste Verfassung Ägyptens von 1923 die Gleichstellung der Religionen eingeschrieben wurde. Aber Papier ist bekanntlich geduldig. Und unter den später folgenden autoritären Staatslenkern wie Nasser oder Mubarak wurden alle Menschen – ob nun koptisch oder islamisch – gleichermaßen unterdrückt. Hinzu kam eine „schleichende“ gesellschaftliche Diskriminierung für die Kopt*innen ins Spiel. Seit den 1990er Jahren kehrten viele ägyptische Muslime als ehemalige Gastarbeiter aus den Golfstaaten ins Land zurück und brachten einen erzkonservativen Islam mit, der den bisherigen liberalen Islam in Ägypten radikalisierte und die Kopt*innen als „Ungläubige“ nun extrem anfeindete.
Dass sich diese latente Diskriminierung auch eruptiv entladen kann, zeigte sich im „Arabischen Frühling“ seit dem Jahr 2011. In Ägypten gingen die Menschen nun gegen das autoritäre Mubarak-Regime vor. An die Spitze stellten sich radikale Islamisten rund um die sogenannte „Muslim-Bruderschaft“. Bereits jetzt kam es zu Ausschreitungen gegen Kopt*innen. Aber die Verhältnisse sollten sich noch verschlechtern. Als nämlich das Militär den gewählten islamistischen Präsidenten Mohammad Mursi 2013 aus dem Amt putschte, sahen sich die christlichen Kopten einer Art Rachefeldzug radikaler Muslime ausgesetzt, denn die koptische Kirche hatte die Niederschlagung der Muslimbruderschaft durch das Militär gutgeheißen. „Binnen weniger Tage wurden in ganz Ägypten über 60 Kirchen zerstört. Hunderte christlicher Geschäfte, Schulen und Wohnungen wurden geplündert oder gingen in Flammen auf“, berichtete damals der Pfarrer einer christlichen Gemeinde in Kairo. Über 100.000 Kopt*innen flohen aus dem Land. Bis 2020 sollte sich die Zahl der Exilsuchenden noch einmal verdoppeln. Viele suchten auch in Deutschland Schutz – nicht wenige bekamen, völlig zu Recht, eine Flüchtlingsanerkennung. Und so kamen auch Kopt*innen nach Unna.
Die Situation der Kopten in Ägypten seit den 2020er Jahren ist zwiespältig. Das autoritäre Militärregime, an dessen Spitze nun der Militär as-Sisi steht, verfolgt zwar islamistische Gruppen wie die Muslim-Bruderschaft, den IS und andere. Der gläubige Muslim al-Sisi propagiert stattdessen eine Art „alternativer Form“ national-islamischer Religiosität. Kopt*innen werden von ihm zwar immer wieder hofiert – letztlich aber bleiben sie ausgeschlossen und ohne Schutz. Unter der Autokratie der Militärs besitzen sie eh keine Freiheiten – erst recht nicht die der freien Meinungsäußerung.
Yacub, ein Betriebswirt aus Alexandria, beschreibt die Diskriminierung in seinem Heimatland so: „Seit vielen Jahren sind wir dem Terror von Islamisten und Radikalen ausgesetzt. Vor allem unsere Kirchen und Geschäfte sind die Ziele. Wir leben in Angst. Wir können zwar zur Polizei gehen, aber dort ignoriert man uns häufig. Schon bei einfachen Dingen, wie einem Verkehrsunfall, bekommen wir kein Recht zugesprochen, auch wenn wir im Recht sind. Weil wir eben Kopten sind.“ Zudem ist der Alltag mit Diskriminierungen diffiziler Art durchdrungen. Yacub erklärt das an einem Beispiel: „Meine Frau und ich haben Wirtschaft studiert. Mit sehr guten Noten. Aber in der Wirtschaftsverwaltung oder Staatsbetrieben bekommen wir trotzdem keinen Job. Und wenn wir Arbeit bekommen, verdienen wir weniger als muslimische Ägypter.“ Tatsächlich bestätigen inoffiziell-interne Weisungen im Staatsapparat diesen Eindruck. Diese geben vor, dass nicht mehr als ein Prozent der Mitarbeiter*innen koptisch sein dürfen, was nur ein Bruchteil der Kopt*innen an der Arbeitsbevölkerung ausmacht. Koptische Ägypter*innen werden also aus verdeckter Staatsräson „klein gehalten“, ohne dass diese daran irgendetwas ändern können.
Hier in Unna leben in diesen Tagen weniger als einhundert Kopt*innen. Die Gemeinde in Massen-Nord ist jedoch größer. Sie wird auch von Gläubigen aus anderen Kommunen und Kreisen besucht und mitgetragen. Hier gibt es gibt Chorunterricht, eine Sonntagsschule, Jugendgruppen und vieles andere mehr, was eine lebendige christliche Gemeinschaft ausmacht, die sich auch gut mit den anderen christlichen Kirchen und der jüdischen Gemeinde versteht. Im Jahr 2019 wurde die Kopt*innen in Unna, ja die Stadt selbst, besonders geehrt. Der koptische Papst Tawadros II besuchte die Gemeinde und weihte noch einmal die Kirche festlich ein, um sich anschließend im goldenen Buch der Stadt Unna zu verewigen.
Nr. 8 Jüdische Gemeinde haKochaw Unna
Buderusstraße 11, 59427 Unna, DE
Nr. 9 Firma Dröge und Koch (Metallbau)
Oberer Kohlenweg 15, 59425 Unna, DE
Firma Dröge & Koch – Arbeitsmigration gestern und heute
An dieser Station befand sich bis 1984 das Werksgelände der Firma Dröge & Koch. Es handelte sich um ein großes, traditionsreiches Unnaer Stahlbauunternehmen. Es wurde 1857 gegründet, der Zeit des großen Aufschwungs der Metall- und Stahl- und Bauindustrie.
Menschen aus anderen Ländern arbeiteten im Metall- und Bausektor seit Gründung der Firma. Bekannt wurde Dröge & Koch indes durch die Anstellung vieler türkischer sogenannter „Gastarbeiter“ seit 1961. In diesem Jahr wurden, durch den Abschluss des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens, auch gezielt Arbeiter aus der Türkei eingestellt, um den Arbeitskräftemangel zu decken. Dröge & Koch stellte zunächst die meisten türkischen Arbeitskräfte in Unna ein, es waren
etwa 30 Männer, vor allem aus Anatolien. Wie wichtig diese neuen Arbeitskräfte waren zeigt sich daran, dass der Chef der Firma damals selbst die neuen Kollegen am Bahnhof abholte. Die Zeiten der Millionen „Gastarbeiter“ in Deutschland und Unna sind lange vorbei. Die Fluchtwege-Station 35 erzählt einen Teil ihrer Geschichte. Heute gibt es selbstverständlich auch Migrant*innen in den Unnaer Firmen – zumal in der Industrie.
Da sind die Einwanderungsgeschichten von Mohamad und Amin:
Mohamad kam Ende 2015 aus Marokko nach Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt war er noch 17 Jahre alt. „Für uns junge ist es Marokko nicht einfach“, erklärt Mohamad, „wenn Du keine wohlhabende Familie hast oder gute Beziehungen. Ich habe fünf Geschwister, mein Vater verdiente wenig Geld. Nach der Schule hast Du wenig Möglichkeiten. Dann machst Du irgendeine schlechte Arbeit. Davon kannst Du kaum leben. Die meisten jungen Männer haben den Traum, nach Europa zu gehen.“ Und das tat er dann auch.
War es eine Flucht? „In Marokko ist kein Krieg wie in Syrien. Es gibt keine Taliban wie in Afghanistan. Hier fliehst Du wegen der Armut. Der Arbeitslosigkeit. Touristen sehen das nicht am Meer in ihren Hotels oder in Marrakesch. Marokko ist sehr schön. Ja, wenn Du Geld hast, Beziehungen. Du kannst auch nichts gegen den Staat sagen. Gegen den König oder die Leute, die die Macht haben, die reichen Familien. Du fliehst vor der ganzen Frustration. Es ändern sich dort nicht wirklich etwas. Wenn Du weggehst, dann kannst du dein Leben finden, neu anfangen. Du kannst es versuchen.“
Mohamad schmuggelte sich in heimlich in einen LKW ein, der mit einer Fähre nach Spanien fuhr. Er versteckte sich in der Ladung. Bis Anfang 2016 war das noch manchmal möglich. Heute werden die Transitfahrten strengsten kontrolliert. War das für Mohamad ein Risiko? „Nicht so gefährlich, wie für die Menschen, die heute mit dem Boot übers Mittelmeer fahren“, sagt Mohamad, „aber viele wurden erwischt. Du wirst dann an die Polizei in Marokko ausgeliefert. Du kommst erstmal schnell in den Polizeiknast. Auch wenn Du eigentlich kein schlimmes Verbrechen begangen hast. Wenn Du Geld hast, kommst Du schnell frei, wenn nicht…“. Mohamad macht eine vielsagen Handbewegung: „...du bist ein nichts.“
Ob er gezielt nach Deutschland gekommen ist? Mohamad wiegt den Kopf hin und her: „Vor allem wollte ich nicht nach Frankreich oder nach Belgien. Obwohl ich gut Französisch spreche. Die Verhältnisse für Marokkaner und Algerier sind einfach schlimm dort. Viele leben nicht besser als in ihren Ländern. Oder schlechter. Viele sind illegal dort. Wenn sie krank sind gehen sie aus Angst entdeckt zu werden nicht zum Arzt. Wie in Brüssel. Ich war eine Woche dort. Dann bin ich weiter nach Deutschland. Es gibt Gewalt untereinander, auch viel mehr Rassismus als in Deutschland.“ Und wie kam er nach Unna? „Ich wurde damals in die Jugendhilfe gebracht. Ausgesucht habe ich mir das nicht. Aber dort war es richtig gut. Ich wurde fair behandelt. Freundlich. Es gab Unterstützung für die Schule und ich bekam nach sechs Monaten schon ein Praktikum in einer Bäckerei.“ Er machte dort im Betrieb einen hervorragenden Eindruck: „Ich bekam ein Angebot für eine Ausbildung als Bäcker! Aber das klappte dann doch nicht.“ Tatsächlich bekam er nicht die Erlaubnis zu arbeiten und hatte schlechte Karten für einen Aufenthaltstitel. „Das war schlimm für mich. Ich wollte arbeiten und mein Geld selbst verdienen, durfte aber nicht! Das ist einfach krank!“.
Was Mohamad in den kommenden zwei Jahren durfte, das war die Schule zu besuchen. Er nutzte die Zeit, machte einen Hauptschulabschluss. Das Betriebspraktikum machte er in Unna in einem Industriebetrieb: „Mir gefiel es sehr gut dort“, erzählt er, „ der Meister fragte dann auch, ob ich mir vorstellen kann, eine Ausbildung zu machen. Es ist ein seltener Beruf, der mit Glasverarbeitung zu tun hat.“ War das Mohamads Wunsch? „Das kann man so nicht sagen“, lacht er, „ich wusste nicht einmal, dass es so einen Beruf überhaupt gibt. Aber ich fand das alles sehr interessant und das Einkommen ist für mich riesig gewesen. Ich dachte erst, dass ich keine Chance habe im Vergleich zu den deutschen Bewerbern. Aber es gab kaum welche.“ Warum nicht? Mohamad sagt es ein wenig verlegen: „Einmal, weil die Berufsschulklasse für die Ausbildung in Essen ist. Das ist wohl für manche Deutsche zu weit – und später ist auch zum Teil die Arbeit eine Schichtarbeit. Ich glaube, die Deutschen sind oft sehr… bequem“. Mohamad steht heute am Ende seiner Ausbildungszeit. Er wird in den Betrieb übernommen und bleibt in Unna wohnen: „Ich habe Glück gehabt“, sagt er, „und ich habe mich angestrengt, weil ich ein gutes Leben haben will.“
Das war auch der Grund, dass Amin 2015 aus Afghanistan nach Deutschland flüchtete. Er kommt aus einer für dortige Verhältnisse gut situierten Familie aus Kabul. Aber die Terror der Taliban, die Anschläge und die katastrophale Lage in diesem Land sorgten dafür, dass seine Eltern ihn mit Schleppern aus dem Land bringen ließen. 8.000 Dollar zahlte die Familie für eine „sichere“ Flucht über die sogenannte „Balkanroute“ ihres minderjährigen Kindes. Ziel war Österreich.
„Ich hatte im dunklen LKW viel Angst. Wir waren tagelang dort eingesperrt. Bekamen ein wenig zu Trinken, kaum etwas zu Essen. Wir wussten nicht, wo wir waren. Die Männer, die uns fuhren oder am Tag uns versteckten sprachen kaum mit uns“, erklärt Amin. „Wir hatten Angst ausgeraubt zu werden oder geschlagen. Das gab es auch! Oder dass man uns verschwinden lässt. Die Schlepper wechselten häufig und machten sich auch über unsere Angst lustig. Sie spielten damit und erschreckten uns.“
„Ich war sehr erleichtert, als ich in Österreich ankam. Dort bin ich mit dem Zug nach Deutschland gefahren. Ich bin in Dortmund angekommen. Den Namen der Stadt hatte ich mal gehört. Unna war für mich unbekannt.“ Amin wurde später als Flüchtling aus Afghanistan anerkannt. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits volljährig, wurde zunächst aber noch eine Weile in der Jugendhilfe betreut. Er bekam schnell Anschluss an die Schule und machte nicht nur seinen Hauptschulabschluss sondern auch gleich noch die Fachoberschulreife hinterher.
„Es war mein Traum, zu studieren“, erzählt er, „das ist bis heute so geblieben. Aber ich habe dann doch einen Ausbildungsplatz gesucht und schnell gefunden. In der Anlagenelektronik. Ich wollte einfach Geld verdienen, meine Eltern in Afghanistan unterstützen, meine Geschwister. Ich wollte nicht länger warten, mein Leben selbst zu führen und zu bestimmen. Abi machen und dann ein paar Jahre studieren… das dauert mir einfach zu lang.“ Heute arbeitet Amin in Unna in der Industrie und ist mindestens zufrieden. Er hat eine Freundin gefunden und plant deutscher Staatsbürger zu werden: „Studieren“, findet er, „ist immer noch mein Traum, vielleicht mache ich das auch noch – aber jetzt will ich erstmal leben“.
Nr. 15 Krankenhäuser (Christliche Kliniken)
Obere Husemannstraße 2, 59423 Unna, DE
Christliches Klinikum Mitte, Menschen mit Migrationsgeschichte in Heilberufen
Das Christliche Klinikum Unna-Mitte ist, anders als bei den meisten Fluchtwege-Stationen, keiner bestimmten Gruppe von Migrant*innen gewidmet. Dieses seit 1886 an dieser Stelle bestehende Krankenhaus steht für alle Menschen mit Zuwanderungsbiografie, die hier in Heilberufen arbeiten. Lucija ist eine von ihnen.
Lucija ist eine kam als junge Frau mit ihrer Familie in den 1990er Jahren aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland. Für sie war eine Arbeit im medizinischen Bereich bereits in ihrer Heimat „der“ Traumberuf gewesen. In Deutschland entschied sie sich dann auch für die Ausbildung als „Krankenschwester“. Der Beruf heißt heute „Gesundheits- und Krankenpflegerin“. Aktuell arbeitet sie noch als sogenannte „Intensiv-Schwester“ – unter anderem im OP-Bereich. „Noch“ bedeutet, dass Lucija plant, als Mittvierzigerin noch einmal eine ganz andere Arbeit auszuüben. Ihren bisherigen Job würde sie nicht mehr so gerne weitermachen. „Es geht um die Arbeitsbelastung“, sagt sie, „und nicht um mein Einkommen.“ Lucija verdient nach eigener Auskunft „sehr gut“: „Ich kann mich hier überhaupt nicht beklagen“. Es ginge vielmehr um die stetig wachsenden Anforderungen, die Kompensation von Personalausfällen, um Arbeitsverdichtung, um Überstunden. „Die Ansprüche sind einfach gewachsen in den letzten Jahren. Heute übernimmst Du in Deinem Aufgabenfeld Aufgaben, die noch vor 15 oder zwanzig Jahren Sache der Ärzte waren“, erklärt sie. Es gäbe „Belastungen und Überbelastungen, die sich auf Dauer massiv auf mein Privatleben, auf die Familie auswirken und auch für meine Gesundheit nicht gut sind.“ Deswegen wolle sie in einen „anderen Beruf wechseln“.
Angesprochen darauf, ob sie viele Kolleg*innen mit Migrationsgeschichte – so wie sie selbst – haben würde, sagt sie: „In der Klinik kommen viele Kollegen aus anderen Ländern. Bei den Pflegern, bei den Krankenschwester und den Ärzten. Aus Bulgarien oder aus Syrien oder aus asiatischen Ländern. Na, klar. Das ist heute nichts Besonderes mehr.“ War das früher anders aus ihrer Erfahrung? „Ja, schon etwas“, meint Lucija, „das hat auch damit zu tun, dass in Deutschland die Leute schon offener und internationaler geworden sind. Aber früher gab es auch mal dumme Bemerkungen, vor allem von Patienten, wenn der Arzt oder die Schwester nicht Deutsch waren. Heute kaum noch.“
Der Eindruck von Lucija deckt sich mit den Zahlen über die Beschäftigung von Menschen mit Migrationsgeschichte in Medizin und Heilberufen in Deutschland im Allgemeinen und Unna im Besondern. Ihr Anteil macht etwa 24-25 Prozent aus an allen Beschäftigten in diesem Berufsfeld. Dies entspricht exakt dem Anteil von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in der deutschen Gesellschaft. Wenn es um Ärzt*innen und die Pflege im stationären Bereich geht, dann liegt der Anteil sogar noch etwas höher – und dieser hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt!
Warum ist das so? Sind den Deutschen die Pflegeberufe zu stressig, liegt es am Verdienst? Lucija glaubt das nicht: „Eine Kroatin ist genauso gestresst, wie ein Deutsche… und klar, wir würden alle gerne mehr verdienen“, lacht sie. Aber sie hat noch eine andere Erklärung: „Ich glaube, dass Ärzte oder Pflegepersonal aus dem Ausland eine andere Haltung zu ihrem Beruf haben“. Man merke zum Beispiel Ärzt*innen aus Syrien oder Iran oder asiatischen Ländern an, „dass in ihren Ländern dieser Beruf einen sehr hohen Stellenwert hat. So wie Lehrer. Sie sind sehr stolz darauf, Menschen zu helfen. In ihren Familie ernten sie eine hohe Anerkennung.“
Tatsächlich ist die gesellschaftliche Reputation medizinischer Berufe sehr groß. In Deutschland und weltweit sind es nach Feuerwehrleuten die angesehensten Berufe. Sind es auch die beliebtesten? Ein klares: Jein! Gemessen an der Aufnahme von Ausbildungen liegen Heil- und zahnmedizinische Fachausbildungen zusammen genommen auf Platz Nummer eins in Deutschland – bei den Frauen! Bei den Männern sind diese Berufe weit abgeschlagen. Das mag einerseits immer noch am Rollenverständnis liegen, dass Frauen in „helfenden Berufen“ verortet, andererseits lassen sich solche Tätigkeiten oft besser mit Teilzeitmodellen arrangieren. Männer stellen noch die Mehrheit im Ärzt*innenberuf, aber bei weiter fortlaufendem Trend werden in etwa zehn Jahren hier die Frauen auch die Männer überholt haben.
Festzuhalten bleibt: Ohne Menschen mit Migrationsgeschichte als Fachkräfte geht es im Gesundheitssektor nicht. Weder die mobile Pflege, noch irgendein Krankenhaus würde noch ohne sie funktionieren. Es würde längst zusammengebrochen sein. Und das ist nur ein Beispiel dafür, wie selbstverständlich und wie notwendig Einwanderung für Deutschland. Nicht zuletzt auch für die Klinik, vor der sie nun stehen.
Nr. 16 Ausländerbehörde
Zechenstraße 49, 59425 Unna, DE
»Ich glaube an Demokratie und Menschenrechte!«
Elias erzählt Euch seine Geschichte
Elias Nassour floh 2016 aus dem Libanon über Frankreich nach Deutschland. Er hat libanesische und syrische Eltern und lebte und studierte zuvor in Beirut, der großen und quirligen Hauptstadt des Landes.
Elias schloss sich der Demokratiebewegung im Libanon an und war Teil einer engagierten politischen Gruppe, die de-monstrierte und auf die korrupte Politik von Regierung und Parteien durch Protest und der Besetzung eines Ministeriums aufmerksam machte. »Weil ich viel Liebe habe für mein Land, für meine Heimat, meine Kultur. Und ich glaube an Demokratie und an Menschenrechte«, so formuliert es Elias.
Elias brachte sich in Gefahr. Er bereitete für sich (und seine Mutter, die noch in Syrien wohnte) die Flucht mittels eines Vi-sums für Frankreich vor. Als er schließlich in Deutschland an-kam war fühlte etwas sehr Entscheidendes: »Du bist in einem sicheren Land, wo Du auf der Straße laufen kannst und es gibt keinen der schießt«. Er fühlte sich sicher – zunächst. Aber sein Asylantrag wurde abgelehnt und er wurde abgeschoben.
Er schaffte es dennoch ein zweites Mal. Er kann nun vor-läufig bleiben, auch wenn er noch keinen ganz sicheren Auf-enthaltsstatus besitzt. Mit der Ausländerbehörde in Unna hat er noch immer zu tun. Elias macht in Unna eine Berufsausbil-dung. Ein Studium der Geschichte hatte er im Libanon bereits erfolgreich beendet. Geholfen haben ihm die vielen positiven Kontakte zu Menschen in Unna: »Ich würde sagen, ich habe echtes Glück gehabt, dass ich viele gute Leute hier getroffen habe. Viele gute Leute haben mir geholfen in Unna«.
Auch wenn »Herz und Seele«, wie er sagt, immer noch im Libanon sind und bleiben werden, er würde nicht mehr dort-hin zurückgehen wollen: Elias ist skeptisch: »Ich denke nicht, dass in 50 Jahren die Situation im Libanon sich ändern würde – nicht nur im Libanon, sondern im Nahen Osten«. Das macht ihn traurig - auch wenn er sein Leben in Deutschland aktiv und optimistisch angeht.
Das komplette Interview können Sie hier hören oder lesen https://www.fluchtwege-unna.de/flucht-aus-afghanistan
Nr. 18 Café der Begegnung / VHS
Lindenplatz 1, 59423 Unna, DE
Platz der Kulturen ؘ– Migrant*innen in der Stadt Unna: Ein Überblick
Sie befinden sich hier am „Platz der Kulturen“. Während alle anderen Stationen der „Fluchtwege“ einzelne Themen und besondere Geschichten zu Flucht und Einwanderung aus Vergangenheit und Gegenwart darstellen – hier möchten wir Ihnen einen Gesamtüberblick der Zuwanderung in die Stadt Unna vermitteln.
Zunächst einmal: Sie befinden sich hier im Zentrum der Stadt an einem Ort, der kaum wie ein anderer so viele Bezugspunkte zur Einwanderung nach Unna besitzt. Er ist quasi „aufgeladen“ mit „Internationalität“. Baulich gesehen befinden Sie sich gerade auf dem Gelände der ehemaligen Lindenbrauerei, die hier von 1859 bis 1979 ihre „Linden-Biere“ produzierte und ein Ankerpunkt der „Route der Industriekultur“ darstellt. Hier befindet sich die Volkshochschule Unna mit dem „Café der Begegnung“ und vielen Bildungs-, Sprach- und Integrationsangeboten für Einheimische und Migrant*innen. Gegenüber finden Sie das „Werkstatt Berufskolleg“ – eine Berufs- und Kollegschule, die die meisten Schüler*innen mit Migrationsgeschichte im Kreis Unna unterrichtet.
In dem historischen Villengengebäude sitzt die Zentrale der Werkstatt im Kreis Unna, ein regionaler Bildungs- und Sozialträger, der nicht nur für die das Projekt Fluchtwege Unna verantwortlich ist, sondern seit vielen Jahren unterschiedliche Aufgaben in der Unterstützung, Begleitung, Beratung und Weiterbildung von Migrant*innen wahrnimmt. Direkt unter Ihren Füßen, also „unsichtbar“ unter dem Platz, befindet sich seit 2002 in den ehemaligen Lager- und Produktionskellern der Lindenbrauerei das „Zentrum für internationale Lichtkunst“, das einzige Museum für Lichtkunst weltweit.
Wie bereits angekündigt, möchte Fluchtwege Unna Ihnen hier einen Gesamtüberblick über die heutige Migrationssituation in der Stadt Unna geben. Dazu stellen sich zunächst zwei Fragen. Erstens: Wozu ist das überhaupt wichtig? Und zweitens: Was sind überhaupt Migrant*innen, wer zählt dazu?
Nun, Menschen sind zunächst einmal Menschen. Sie sind oder sollten gleich an Rechten sein – und sie sind vielfältig an Eigenschaften, Charakter, Emotionen, Wissen, Fähigkeiten, Glauben, Wünschen und Hoffnungen unabhängig ihrer Herkunft oder gar Nationalität. Warum also einen Unterschied machen, ob jemand eine deutsche Staatsangehörigkeit hat oder eben nicht? In der Unterscheidung der Herkunft darf jedenfalls niemand diskriminiert werden. So will es schon das Grundgesetz. Dennoch ist es für die Stadt nicht unwichtig zu wissen, wie viele zugewanderte Menschen es gibt. Denn diese haben durchaus bedarf für besondere Unterstützung: Integrationshilfen, KiTa-Plätze, Sprachförderungen zum Beispiel. Die Frage, wer eigentlich zu den Migrant*innen zählt ist zunächst nicht einfach zu beantworten. Menschen, die einen deutschen Pass besitzen, wie zum Beispiel ein Jugendlicher der mit deutschen Eltern in Spanien aufgewachsen ist, muss nicht zwangsläufig deutsch sprechen oder sich mit den Verhältnissen in Deutschland auskennen. Bürger*innen der Stadt Unna beispielweise mit türkischem Pass, die bereits seit drei Generationen hier leben, gelten wiederum als „Ausländer“, obwohl sie nie etwas anderes als diesen Staat und diese Stadt kennengelernt haben. Und noch ein weiteres Beispiel: Würde man den vielzitierten „Migrationshintergrund“ auf drei oder vier Generationen ausdehnen, dann müssten sich wahrscheinlich mehr als 4.000 Unnaer*innen als polnisch wahrnehmen, weitere 2.000 wohl mit russischen oder kasachischen „Hintergrund“ und weitere Tausend als italienisch, griechisch, spanisch, niederländisch und so weiter. Durch diese Art und Weise der „Migrationswahrnehmung“ gäbe es praktisch kaum noch Menschen dieser Stadt, die keine Migration in ihrem Stammbaum eingeschrieben haben.
Wenn wir die jedenfalls die Daten aus dem Zensus der Stadt Unna von 2020 heranziehen, dann werden hier in Unna all jene Bürger*innen oder Bewohner*innen „gezählt“, die nur einen ausländischen Pass besitzen – oder neben der deutschen auch eine zweite Nationalität. Konkret bedeutet das: Bei etwas unter 61.000 Unnaer*innen sind knapp 6.000 Menschen oder gut 10 Prozent „Nichtdeutsche“. Diese Zahl liegt gut zwei Prozent unter dem bundesdeutschen Durchschnitt. Die meisten von Ihnen sind übrigens EU-Bürger*innen – vor allem aus Polen, Bulgarien und Rumänien, gefolgt von Griechenland und Spanien. Die Zahl der Geflüchteten ist vergleichsweise gering: keine 800 Menschen kommen Syrien, dem Irak, Afghanistan oder Eritrea.
Höher ist die Zahl der Menschen, die einen „Doppelpass“ besitzen, also zwei Nationalitäten angehören. In Unna sind es weitere 7.000. Das ist fast doppelt so hoch wie im Bundesgebiet. Man mag den Grund vielleicht darin vermuten, dass hier viele Menschen mit türkischen Wurzeln zu dieser Gruppe gezählt werden, aber tatsächlich sind hier es in der Summe Zuwander*innen mit EU-Nationalität aber auch Geflüchtete der 1990er Jahre dabei, die aus dem ehemaligen Jugoslawien gekommen sind.
Insgesamt leben in Unna Menschen aus rund 80 Nationen miteinander – aus vielen Ländern sind es nur sehr wenige Menschen. Letztlich ist festzuhalten: In Unna lebt die halbe Welt – oft miteinander, manchmal nebeneinander, aber doch friedlich und mit einem Sinn für Gemeinsamkeit und Toleranz!
Nr. 19 Berufskolleg der Werkstatt im Kreis Unna
Nordring 39, 59423 Unna, DE
Werkstatt-Berufskolleg Unna
Das Werkstatt-Berufskolleg wurde 2013 gegründet, um eine Lücke für benachteiligte Jugendliche zu füllen und insbesondere in der Berufsvorbereitung "aus einer Hand" arbeiten zu können.
Im Werkstatt-Berufskolleg Unna sind alle Menschen willkommen: Junge Menschen mit originellen Lebensbiographien, mit und ohne Abschlüsse, ältere Menschen, die in ihrer zweiten Lebensphase einen neuen Beruf erlernen wollen, mit und ohne Behinderungen, aus Förderschulen und zur Neuorientierung auch Menschen mit Lernschwierigkeiten. Als inklusive Schule lernen wir miteinander und gemeinsam. Alle Lehrerinnen und Lehrer haben neben ihrer pädagogischen Ausbildung auch andere Berufsausbildungen und kommen aus der freien Wirtschaft.
Seit dem 2. Dezember 2016 hat das Werkstatt-Berufskoleg die Urkunde "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage".
Nr. 21 Erste Eisdiele in Unna
Markt 7, 59423 Unna, DE
Das Speiseeis, genau genommen die leckere Eiscreme aus unterschiedlichen Früchten oder Vanille und Schokolade, ist ohne Einwanderung praktisch undenkbar. Eiscreme ist eine italienische Erfindung. Und tatsächlich stimmt es, dass es Italienerinnen und Italiener waren, die es nach Deutschland brachten. Ein Vorurteil oder Mythos hingegen ist, dass es italienische Gasterbeiter waren, die ab den 1950er nach Deutschland kamen um im Bergbau oder Stahl zu arbeiteten und dann schließlich auf Eis »umsattelten«.
Tatsächlich kamen bereits in den 1920er und 1930er Jahren „Eismacher*innen“ aus Italien nach Deutschland, um ihre Produkte auch hier herzustellen und in kleinen Verkaufsbuden, Geschäften oder einfach aus dem heimischen „Fenster hinaus“ zu verkaufen. Vor allem Familien aus der italienischen Alpenregion, den Dolomiten, der Ursprungsregion der Eiscreme in Italien, wanderten ein und betrieben ihr traditionsreiches Handwerk. So ist es auch kein Wunder, dass sich bis heute etliche Eisdielen „Dolomiti“ nennen. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs und mit dem Ende des Bündnisses zwischen Nazideutschland und Mussolini-Italien kehrten die meisten der Eismacher*innen-Familien wieder zurück nach Italien, freiwillig oder durch Zwang, weil sie nun feindliche Ausländer*innen waren.
Erst zu Beginn der 1950er Jahre machten sie sich wieder auf den Weg nach Deutschland. Zunächst in viele Großstädte und besonders ins Ruhrgebiet. Und an dieser Stelle spielt das Thema »Gastarbeiter« tatsächlich wieder eine Rolle – denn eben jene waren auch in die Ruhrregion eingewanderten und stellten nun die ersten und verlässlichen Kund*innen dar, die – noch eher als Pizza oder Pasta – einen Teil der Kultur ihrer Heimat genießen wollten. Espresso oder eben auch Eis. Und auch das Gespräch auf Italienisch repräsentierte so ein »Stück Heimat« in der deutschen Fremde. Übrigens: Die Eisherstellung ist ein anspruchsvoller Lehrberuf und kein »Freizeitgewerbe«. In Italien ist der Beruf sehr angesehen und wer aus einer traditionellen Eismacher*innenfamilie stammt, geht noch heute nach Norditalien zurück, um dort den »Meister*innenbrief Eiskonditor*in« zu erwerben.
In Unna war die erste »Gelateria« noch kein Eiscafé im heutigen Verständnis, sondern eine „Eisdiele“. Sie befand sich in einer kleinen Gasse, die vom Markt ausging (Markt 7). Dort wurde aus einem Fenster heraus das Eis verkauft. Das war in den Anfangstagen der italienischen Eiscafés durchaus üblich: Damit die Kund*innen, vor allem Kinder, besser an das Eis herankamen, wurde ein Holzbrett (eine „Diele“) unter dem Fenster erhöht befestigt oder aufgestellt, auf die die Eishungrigen dann treten konnten… die „Eisdiele“ war also geboren.
Über die italienische Familie, die dort ihren Laden ab den frühen 1950er Jahren betrieb ist heute nichts mehr bekannt. Die Gasse zum Markt ist längst zugebaut und das Haus mit der „Eisdiele“ vor Jahrzehnten abgerissen.
Nr. 22 Türkisch Islamische Gemeinde zu Unna e. V.
Höingstraße 22, 59425 Unna, DE
Die „Türkisch Islamische Gemeinde zu Unna e. V.“ wendet sich an Menschen islamischen Glaubens, die hier Ansprechpartner*innen und in der Moschee einen Raum zum Gebet finden. Die Gemeinde setzt sich aktiv für den Austausch mit der Nachbarschaft und Menschen unterschiedlichen Glaubens ein.
Schon seit vielen Jahren veranstaltet die Gemeinde hier im Frühjahr eine Kermes, zu der Gemeindemitglieder, Nachbarn und alle Unnaer Bürger*innen geladen sind.
Adresse:
Höingstr. 20
59425 Unna
Nr. 23 Zentrale Wohneinrichtung für Geflüchtete
Höingstraße 24, 59425 Unna, DE
»Ich fühle mich jetzt so, dass ich neu geboren bin!«
Nazir (*) erzählt Euch seine Geschichte
Nazir Ahmad floh mit 16 Jahren Ende 2015 aus Afghanistan. Nazir ist Paschtune. Wie viele andere jungen Paschtunen auch wurde er von der Taliban gedrängt, diese zu unterstützen und ein Teil der Organisation zu werden. Nazir wollte das nicht. Mit Hilfe seines Vaters und seines Onkels verließ er Afghanistan und floh über den Iran, die Türkei, Griechenland und den Balkan nach Deutschland, wo er in München ankam.
In der weiteren »Verteilung« von Geflüchteten in Deutsch-land wurde er über Gießen in den Kreis Unna geschickt, wo er als sogenannter »umF« (unbegleiteter minderjähriger Flücht-ling) zunächst in Kamen in einer Jugendhilfeeinrichtung wohnte und betreut wurde. Später zog es ihn nach Unna. Nazir stelle einen Asylantrag. Erfolgreich – er besitzt einen Aufenthaltstitel.
Nazir schloss erfolgreich die Realschule ab. Eine zunächst begonnene Ausbildung als Hotelkaufmann entsprach schließlich nicht seinen Vorstellungen und er wechselte auf einen Ausbil-dungsplatz nach Dortmund, wo er sich nun zum Kaufmann für Büromanagement ausbilden lässt.
Europa war sein ausgewähltes Fluchtziel, ein besonderes Land hatte er nicht im Kopf – er wäre auch für »Italien und Schweden« dankbar gewesen. Dass es Deutschland geworden ist war nicht seine Entscheidung, sondern die, der Behörden, die ihn Im Dezember 2016 in den Kreis Unna schickten. Hier fühlt er sich »so normal, so wie andere Mitbürger in Deutschland. Ich habe mich jetzt halt integriert«, sagt er.
In Deutschland ist das Leben, wie in einer anderen Welt im Vergleich zu Afghanistan, vom dem er sagt, sie seien dort »30 Jahre zurück«. Und hier fühlt er sich auch zugehörig: »Ich fühle mich jetzt so, dass ich neu geboren bin! (…) Ich fühle mich so wie ein Deutscher oder wie einer, der hier geboren ist.« Nazir möchte nichts anderes, als ein normales Leben führen, eine Ausbildung machen, zur Arbeit gehen, eine Familie gründen.
Und er findet, dass die Menschen in Deutschland und in Un-na tolerant sind: »Jeder akzeptiert so jeden, wie er ist (…). Nicht so wie in Afghanistan wo sie sagen: Du bist Pashto, du bist Ha-zara, du bist Tadschike, du bist Usbeke...«.
(*) Auf Wunsch des Interviewten wurde der Name durch das Projekt geändert
Das komplette Interview können Sie hier hören oder lesen: https://www.fluchtwege-unna.de/flucht-aus-afghanistan
Nr. 25 Quartiersbüro Königsborn
Berliner Allee 28, 59425 Unna, DE
Quartiersbüro Königsborn, Königsborn als Lebensort vieler Migrant*innen
Das Quartiersbüro Königsborn an dieser Stelle der Fluchtwege-Stationen steht für einen Unnaer Stadtteil, der heute wie kaum ein anderer durch die Menschen mit Migrationsgeschichte geprägt ist. Abgesehen von der Gartenvorstadt leben in Königsborn, insbesondere im sogenannten „Sozialraum Königsborn Süd-Ost“, die meisten Menschen mit Migrationsgeschichte. Hier sind es fast 50 Prozent der Bevölkerung. Nur zum Vergleich: Im den eher „dörflichen“ Stadtteilen, wie Lünern, Billmerich oder Kessebüren sind es gerade einmal sieben bis zehn Prozent, was weit unter dem städtischen Durchschnitt liegt. Mit fast 1.200 Bürger*innen wohnen in Königsborn Süd-Ost auch die meisten Menschen mit einem „Doppelpass“ – also Menschen, die neben einer ausländischen zusätzlich auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen.
Königsborn hat eine lange Einwanderungsgeschichte. Bei Station 30 der Fluchtwege-Spaziergänge, der früheren Saline von Königsborn, erfahren sie mehr dazu. Dabei sah es in der Nachkriegszeit zunächst gar nicht so sehr nach Einwanderung in Königsborn aus. Es entstand von den späten 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre hinein viel neue Wohnbebauung im Stile einer „Satelliten-Stadt“. Das war zu dieser Zeit bei vielen einheimischen Familien sehr beliebt: Großzügige Wohnungen mit mehreren Kinderzimmern, Zentralheizung, moderner Abfallentsorgung, Aufzug im Haus – dazu: kleine Parks, breite Straßen mit Parkraum für unzählige Autos und Einkaufsmöglichkeiten und Kindergärten gleich „um die Ecke“. Was heute als „Betonsiedlung“ gilt, war vor noch einigen Jahrzehnten als Top-Lage total beliebt. Allerdings hielt sich dieses Wohnkonzept nicht sehr lange. Mit zunehmendem Wohlstand und anderen Wünschen, wie „Wohnen“ aussehen soll, zogen nach und nach viele Menschen fort, in neue Eigentumswohnungen, in Einfamilienhäuser auf dem Lande oder in attraktive Top-sanierte Altbauten in die Innenstadt. Der Wohnraum in Königsborn blieb erschwinglich und wurde ein neues Heim für jene, die sich weniger leisten konnten – und das waren und sind kinderreiche Familien und Migrant*innen.
Heute wohnen Menschen aus vielen Nationen hier: Geflüchtete aus Syrien oder Afghanistan und afrikanischen Ländern, Menschen mit türkischer Migrationsgeschichte und den aus Staaten des ehemaligen Jugoslawiens. Aber auch EU-Bürger*innen zum Beispiel aus Südosteuropa, vor allem aus Rumänien und Bulgarien, die „immer etwas unsichtbar“ bleiben und zu „denen wir gerne mehr Kontakt bekommen würden“, wie der Integrationsbeauftragte der Stadt Unna hofft. Die Menschen in Königsborn leben manchmal eng und gemeinschaftliche miteinander. Und manchmal auch eben distanziert. Es gäbe von vielen Geschichten ihrer Einwanderung zu berichten - nach Deutschland, nach Unna und in diesen Stadtteil. Zwei Geschichte wollen wir erzählen.
Da ist Mohamed. Er lebt seit etwa drei Jahren in Königsborn. Er kommt aus Guinea und wohnte in Deutschland zunächst in einer Unterkunft für Asylbewerber*innen in Unna, bis er die Erlaubnis bekam, sich eine Wohnung zu suchen. Warum gerade in Königsborn? „Einfach so, weil eine Wohnung dort frei war“, erklärt Mohamed, „Du hast ja nicht die Wahl. Du nimmst was frei ist.“
Auf die Fragen ob es ihm dort gefiele und er dort andere Leute kenne, meint er: „Eigentlich möchte ich weg. Unna ist nicht schlecht, Königsborn ist ganz gut, aber hier ist nicht viel los. Nicht für junge Leute“, so seine Meinung. „Ich möchte nach Dortmund ziehen. Da sind meine Freunde, meine Leute. Hier kenne ich auch ein paar, aber es sind nicht viele. Es sind viele Ausländer hier. Aber ich habe zu denen nicht viel Kontakt.“ Mohamed spielt auf seine Situation als Guineer an. Tatsächlich gibt es eine große „Community“ von Guineer*innen bzw. Westafrikaner*innen in Dortmund. Dorthin fährt er sooft es passt. Die Leute dort sprechen Fula, seine Muttersprache, tauschen sich aus über dies und das. Man kocht zusammen, kauft in Geschäften ein, in denen es auch Waren aus Westafrika gibt. Für Mohamed ist das wichtig. Es ist ein Stück alte Heimat, ein sozialer Platz für den Start in die Zukunft in eine gehoffte neue Heimat.
Mohamed macht in Unna an einem Berufskolleg gerade seinen Schulabschluss, danach eine Ausbildung. Das ist sein Plan. Er könnte aufgehen. Der Zwanzigjährige ist ein recht guter Schüler. Nach einigem Hin- und her hat er einen Aufenthaltstitel für Deutschland bekommen. Keinen guten, aber immerhin einen Aufenthaltstitel. Ob er in Königsborn Anschluss gefunden hat, Freunde gefunden hat – vielleicht Deutsche? „Eigentlich nicht so richtig“, sagt der Zwanzigjährige, „Freundschaften schon, aber eher im Café Chili.“ Das ist ein beliebter Treffpunkt für junge Migrant*innen in innenstadtnähe am Südring – aber nicht in Königsborn. Dort, im „Café Chili“ gibt es neben Tee oder Kaffee Unterstützung für alle Lebenslagen, insbesondere auch Sprach- und Schulförderung. Mohamed findet: „Meine Wohnung (in Königsborn) ist eher nur was zum Schlafen.“
Einen ganz anderen Bezug zu Königsborn hat Agim. Der Enddreißiger aus dem Kosovo lebt hier schon eine Weile. Seine Wohnung im Nordosten findet er sehr gut und großzügig und vor allem ist es nicht weit bis zu seinem Arbeitsplatz im Logistikbereich in Süd-Kamen. Agim lebt sehr gerne in Königsborn: „Hier habe ich alles, was ich brauche“, meint er, „alles ist gleich nebenan. Ich kann hier einkaufen, oder in den Park gehen zum Joggen… Ich bin schnell im Zentrum. Die Leute sind auch nett.“ Agim hat hier guten Kontakt zu deutschen Nachbarn und Nachbarn aus anderen Ländern. Auch Kollegen wohnen hier in der Nähe. „Alles sehr praktisch, nicht zu klein, wie im Dorf. Und nicht zu groß.“. Großstädte mag er nicht.
Agim kam als qualifizierte Arbeitskraft nach Deutschland, direkt nach Unna. Im Kosovo hatte er studiert. Dort hatte er auch für die multinationale Friedenstruppe KFOR gearbeitet – insbesondere für die Bundeswehr. Sein Deutsch ist hervorragend. Nun möchte er seine Familie aus dem Kosovo nachholen. Gerne auch nach Königsborn. Eine größere Wohnung? „Ja, ich habe eine Aussicht dafür hier“, sagt er. Aber es gibt eben auch Probleme ganz anderer Art. „Ich muss für mich und meine Familie dann komplett den Lebensunterhalt verdienen. Also keine Unterstützung vom Jobcenter…“. Agim verdient nicht schlecht. Recht gut sogar. Sein Gehalt liegt für deutsche Verhältnisse sogar etwas über dem Durchschnitt. Er hat sich aktuell in einer Beratungsstelle in der Innenstadt Hilfe besorgt, denn er hat nicht nur eine Frau, sondern auch drei Kinder im Kosovo. Die Auskunft der Beratungsstelle war für ihn schon desillusionierend: „Den Lebensunterhalt für meine Familie berechnet der Staat sehr hoch. Ich müsste schon ungefähr so viel wie ein Schullehrer bekommen, damit meine Familie nachziehen darf. Oder ich müsste in meinem Betrieb Abteilungsleiter werden. Dabei brauchen wir doch gar nicht so viel. Meine Frau würde hier leider so schnell keine Arbeit finden. Meine Kinder sind noch klein.“
Agim weiß noch nicht, was er tun wird. Ohne seine Familie will er nicht länger allein in Deutschland leben. Aber wenn woanders ein besserer Lohn bezahlt würde, der den Lebensunterhalt für seine Familie sichert? „Dann muss ich gehen, in eine andere Stadt eben… dann fangen wir neu an. Meine Familie geht vor.“ Er sagt das mit Entschlossenheit und Traurigkeit gleichermaßen. Denn eigentlich würde er hier in Königsborn gerne bleiben.
Nr. 26 Flüchtlingsberatung des Caritasverband für den Kreis Unna
Höingstraße 5-7, 59425 Unna, DE
In der sozialen Beratung von Geflüchteten wird Menschen ohne dauerhaften Aufenthaltsstatus geholfen.
Das Angebot umfasst vor allem folgende Hilfen:
- Klärung der individuellen Bedingungen und Fähigkeiten
- Beratung im Integrationsprozess / Klärung von Ansprüchen auf staatliche Hilfen
- Vermittlung zu Sprachkursen
- Begleitung von Initiativen von und für Flüchtlinge
- Vernetzung von Diensten
- Arbeit mit Ehrenamtlichen
- Unterstützung von Selbstorganisationen
- gemeinwesenorientierter Projektarbeit
Mehr Infos: https://www.caritas-unna.de/migration/temporaere-integration/temporaere-integration
Nr. 27 Café Weltoffen/Initiative Ehrenamt
Gerhart-Hauptmann-Straße 12, 59423 Unna, DE
Der Treffpunkt und das Café „WeltOffen“ ist eine Initiative von ehrenamtlichen Bürger*innen in Unna, die Geflüchteten die Integration in dieser Stadt erleichtern möchten. Die Ehrenamtlichen sind Deutsche bzw. deutschsprachige Menschen – genau so, wie Migrant*innen, die die Herkunftssprachen und Kulturen von Geflüchteten und Einwander*innen gut kennen.
Hier vor Ort treffen sich Menschen aus verschiedenen Kulturen zum Austausch. Es wird zusammen Kaffee und Tee getrunken, gemeinsam gespielt und sie einfach „ausgetauscht“ über aktuelle Probleme oder Alltagserfahrungen. Häufig sind Kinder im Café, die Spielkamerad*innen finden oder sich mit den „Großen“ beschäftigen.
Miteinander wächst eine Atmosphäre des Vertrauens und der Gemeinschaft. Zusammen finden die Ehrenamtlichen mit den Migrant*innen Lösungen für vielfältige Probleme oder vermitteln zu kompetenten Ansprechpartner*innen. Typische Themen sind: Hilfe beim Verstehen und Bearbeiten von offiziellen Schreiben, Kontakt zu Ämtern, Suche von Kindergartenplätzen oder Hilfe bei der Wohnraumsuche und Einrichtung von Küchen. Es wird individuell Hausaufgabenhilfe und Nachhilfe für Schüler*innen angeboten.
Viel Freude machen allen die besonderen Aktionen. Es gibt eine Gartengruppe mit einem großen Gemüsegarten. Es wird zusammen gekocht und ein Schwimmunterricht für Frauen angeboten. Dazu kommt der Spieletreff „Spiel mit“, in dem gemeinsam Gesellschaftsspiele gespielt werden und ein Treffen für Senioren aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen. Ausflüge, z.B. in Zoos oder Tierparks, werden geplant und angeboten. Erwachsene und Kinder werden durch die Ehrenamtlichen Helfer*innen unterstützt, um an den vielfältigen Angeboten in der Stadt Unna teilzunehmen und ein Überblick über deren Angebote gegeben wird. Die Eherenamtler*innen haben hier auch die Aufgabe der Vermittlung und Begleitung. So kann der Treffpunkt „Türöffner“ in die Stadtgesellschaft sein und die Integration von Geflüchteten bzw. Migrant*innen fördern. In Kooperation mit anderen Initiativen und Einrichtungen werden interkulturellen Veranstaltungen mitgestaltet und besucht.
Bei „WeltOffen“ sind alle willkommen und zu den Öffnungszeiten stets herzliche eingeladen. Der Text zu diesem Standort entstand in Zusammenarbeit von Fluchtwegen mit den Ehrenamtlichen dieser Inititaive.
Nr. 28 Asylverfahrensberatung unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
Gerhart-Hauptmann-Straße 29, 59423 Unna, DE
An dieser Stelle muss mit einem Gerücht aufgeräumt werden. Immer wieder wird behauptet, dass viele Minderjährige, vor allem männliche Jugendliche, nach Deutschland geschickt werden, um von hier aus ihre Familie „nachzuholen“. Und mehr noch: Überdies seien minderjährige Unbegleitete auch für den deutschen Staat besonders teuer. So wird behauptet, dass ein einzelner minderjähriger Flüchtling in einer Betreuungseinrichtung „den Steuerzahler“ 100.000 Euro und mehr pro Jahr kosten würde.
Stimmt das? Nun, checken wir dazu die Fakten: Im Jahr 2015, zur Hochzeit der Flucht aus Syrien, Irak und Afghanistan kamen rund 95.000 unbegleitete Minderjährige – allerdings nach ganz Europa! Nach Deutschland kamen 14.000. Zum Vergleich: Das viel kleinere Schweden nahm 2015 über 35.000 von ihnen auf. Und noch ein Vergleich: Die meisten der minderjährigen Geflüchteten, nämlich über 90 Prozent, kamen und kommen in Begleitung ihrer Eltern oder eines Elternteils – sind also nicht gar nicht unbegleitet. Insgesamt nimmt die Anzahl der in Obhut genommenen jungen Geflüchteten in Deutschland seit 2015 aber kontinuierlich ab. 2019 waren es noch ca. 8.500, 2020 etwa 7.500, Tendenz weiter fallend.
Nur wenige Minderjährige können überdies von ihrem Recht Gebrauch machen, ein Elternteil und weitere Familienangehörige aus dem Herkunftsland nachziehen zu lassen. Bis Minderjährige ihre eigene Asylanerkennung bekommen, weitere Anträge gestellt und andere Vorbereitungen getroffen werden, vergehen Monate und oft Jahre. Zudem sind die gesetzlichen Voraussetzungen sehr streng und die Kosten für eine Familienzusammenführung, die die Betroffenen selbst aufbringen müssen, viel zu hoch, sodass überhaupt nur sehr wenige Väter oder Mütter aus den Heimatländern nach Deutschland reisen dürfen.
Es ist indes Richtig, dass fast 90 Prozent der in Obhut genommenen jungen Geflüchteten männlich sind. Warum? Dafür gibt es einen wesentlichen Grund: Die Mehrheit der geflüchteten Minderjährigen kam und kommt aus Kriegs- und Bürgerkriegsländern wie Syrien, dem Irak, Afghanistan und Somalia. Dort werden junge Männer regelmäßig zum Kriegsdienst in eine Armee, Miliz, Rebellen- oder Terrortruppe gepresst. Wir müssen uns das so vorstellen: In Syrien beispielsweise kam an einem Tag die syrische Armee in die Wohnhäuser oder Schulen und verlangten die „Herausgabe“ der jungen Männer. Am nächsten Tag war es die al-Nusra-Front, am übernächsten der IS. Wollten die Familien ihre Söhne nicht ausliefern, mussten sie ein Lösegeld bezahlen. Immer und immer wieder. Wer kann es also den jungen Männern verdenken, lieber zu flüchten, als in einem mörderischen Bürgerkrieg für irgendeine der Parteien zu töten und getötet zu werden? Wer kann es den Eltern verdenken ihre Kinder zu schützen und außer Landes in Sicherheit zu bringen?
Zu den Kosten: Ein Platz in einer Jugendhilfeeinrichtung kostet zwischen 2.000 und 4.000 Euro im Monat, je nach Art und Intensität der Betreuung. Und einen Kostenunterschied zwischen geflüchteten und anderen Minderjährigen gibt es nicht. Allen steht das Gleiche zu. Das ist gesetzlich klar geregelt.
Nr. 31 Königsborn Kurpark
Kurpark 4, 59425 Unna, DE
Königsborn, Kurpark: Unna-Königsborn als Kurort und Touristenziel
Königsborn hatte schon eine beachtliche Geschichte von Einwanderung hinter sich, bevor in den 1860er Jahren der Kurbadbetrieb in der damals noch von Unna unabhängigen Gemeinde aufgenommen wurde. Die Salzgewinnung und die Kohleförderung hatten, wie zum Beispiel bei Station 32 bei Fluchtwege Unna zu erfahren ist, bereits für einen regen Zuzug von Arbeitskräften geführt.
Die geförderte Sole, das mit Salzen angereicherte Wasser, wurde als Grundstoff zur Speise- und Industriesalzgewinnung im späten 19. Jahrhundert immer weniger interessant – sprich: rentabel. Dafür ließ sich mit der Sole etwas anderes bewerkstelligen, was damals schon einige Zeit im Trend lag: Salzbäder und Lufterholung bei den Gradierwerken. Denn Solesalz wurde als gesundheitsfördernd entdeckt.
In dieser Zeit, vor allem in den Jahren zwischen 1875 und 1914 erlebte Königsborn einen wahren Bauboom. Der, auch im Vergleich zu anderen Kurbadstandorten, großzügige Kurpark wurde errichtet. Auch ein im griechischen Stil errichtetes „Tempelchen“ durfte nicht fehlen. Villen, Pensionen, Kurhotels, Hallenbäder und begleitende Kultureinrichtungen im Baustil des Historismus oder der Gründerzeit entstanden. „Bad Königsborn“ war hier kein Sonderfall. Ähnliches passierte vom Nordseebad Norderney bis nach Baden-Baden: So sehen sich die alten „Kurbad-Pensionen“ im Villenstil alle sehr ähnlich. Die Badegäste bestanden zunächst aus dem wohlhabenden Bürgertum, das sich etwas Gutes tun wollte und auch gutes Geld hatten, um dieses in den Kurbädern auszugeben. In dieser Zeit wurde im Kurpark, oft am Sonntagvormittag, zur „türkischen Musik“ eingeladen. Gemeint war damit ein Platzkonzert einer Militär- oder Freiwilligenkapelle, die „klassisches Repertoire“ mit Trompeten, Pauken und Co. vertonten im Sinne von Militär- und Marschmusik. Diese galt, nicht zu Unrecht, noch nicht als „deutsche“ sondern eben als „türkische Musik“.
Touristen benötigen Versorgung, wollen wohnen, essen und unterhalten werden. In den Spitzenzeiten kamen nach Königsborn bis zu 2.000 Dauergäste und weitere Tausende von Kurzaufenthalten in den Bäderbetrieb rund um die Sohle und die Gradierwerke. Arbeitskräfte aus der Umgebung konnten den Bedarf nicht decken. So zogen Hunderte von Arbeitskräften aus Osteuropa, aber beispielsweise auch aus Belgien oder den Niederlanden zogen nach Unna und in Umgebung, um zunächst Bauarbeiten zu erledigen, später auch, um den Badebetrieb und die Gästeversorgung zu unterhalten, zum Beispiel als Dienstpersonal. Es wird geschätzt, dass zwischen 1860 und 1920 ständig mindestens 150 Bedienstete aus dem „Ausland“ hier beschäftigt waren.
Vor allem als Dienstpersonal gab es junge Frauen aus Masuren, Schlesien oder Böhmen, die hier Dienst taten. Einigen waren Ehefrauen und Töchter bereits hier arbeitender Männer im Bergbau. Andere kamen – wegen besserer Aussichten – aus ihrer Heimat nach Unna. Sie waren jung und hatten, wie man heute sagen würde, keine „Lobby“. Nennen wir ein solches Dienstmädchen Beata. Sie war gerade 18 Jahre alt, wohnten in einer Kammer im Kurhotel. Ihr Arbeitstag hatte 10 bis 12 Stunden. Einen Tag in der Woche hatte sie frei. Sie musste Tischwäsche waschen, Geschirr säubern, den Gästeraum aufräumen, Einkauf- und Botengänge erledigen, Gemüse putzen, Müll tragen, die Köchin unterstützen und vieles mehr. Wieviel verdiente sie? Zum Vergleich: Ein Arbeiter in der Industrie in Unna verdiente um das Jahr 1900 etwa 800 bis 900 Reichsmark. Im Jahr! Das war kein hohes, aber ein ordentliches Einkommen. Beate bekam pro Monat nur zwischen 15 und zwanzig Mark! Das war im Verhältnis zu angestellten jungen Frauen im Kurbadbetrieb eher wenig, was daran lag, das in Unna seit etwa 1900 eher das untere Bürgertum Urlaub machte, später sogar ausgewählte Industriearbeiter kurten. Anders als in den mondänen Kurbetrieben in Karlsbad, Bad Pyrmont oder eben Baden-Baden warfen die Gäste nicht so viel Gewinn ab.
Zudem: Beate bekam auch weniger Lohn, weil Unterkunft und Essen („Kost und Logis“) ihr vom „eigentlichen“ Lohn abgezogen wurden. Beata also verdiente nicht üppig und sparte wahrscheinlich viel – für eine „Aussteuer“, für ein besseres Leben in der alten Heimat. Trotz schlechter Bezahlung, kaum Freizeit, gab es wenige Arbeits-Alternativen. Wurde Beata schwanger, dann wurde sie „demissioniert“ – also hinausgeworfen! Das gleiche galt für langwierige Krankheiten oder andere „Verfehlungen“. Eine gewerkschaftliche Vertretung, Betriebsräte oder Sozialleistungen gab es damals ansatzweise für männliche Arbeiter im Stahl oder auf dem Pütt. Und auch dann nur, wenn es preußische oder deutsche Staatsbürger waren. Beate musste sich zu diesen Bedingungen fügen. Und eines kam dazu: Zwar waren „ausländische Mädchen“ beliebt, sie vermittelten auch ein gewisses „internationales Flair“ im Bäderbetrieb, allerdings wurden diese auch schnell „ausgetauscht“. Vor allem dann, wenn die Frauen älter wurden. Sie galten dann als weniger „folgsam“ und auch den Gästen als nicht mehr „vorzeigbar“.
In den 1920er Jahren ging der Bäderbetrieb vor allem aufgrund der fehlenden Gäste bzw. der Inflation zurück. Das eingewanderte Personal ging nach und nach an andere Kurstandorte, wechselte den Beruf oder kehrte in die ehemalige Heimat zurück. Über ihre Schicksale und Geschichten wissen wir heute fast nichts mehr, obwohl sie einst die Wirtschaft Unnas bzw. Königsborns mitbestimmten. Sie bleiben „unsichtbar“.
Nr. 32 Deutsch -Polnischer Kulturverein
L665 117, 59427 Unna, DE
Polnische Einwanderung nach Unna, ehemalige Zeche Massener Tiefbau
Es ist gar nicht einfach, einen Ort zu finden, der „typisch“ ist für die polnische Migration. Denn die Einwanderung von Menschen aus Polen in das Ruhrgebiet und nach Unna gibt es schon seit mehr als 150 Jahren. Sie ist die längste und zahlenmäßig mit der türkischen die bedeutendste aller Einwanderungsgeschichten. Und Pol*innen haben fast an jeder Stelle die Wirtschaft, Politik und Kultur in Deutschland, besonders im Ruhrgebiet und hier in Unna mitgeprägt.
Da polnische Arbeiter*innen in Unna besonders in der Industrie beschäftigt waren soll nun der Standort der ehemaligen Zeche „Massener Tiefbau“ für die polnische Einwanderung bei „Fluchtwege“ stehen. Sie befinden sich hier an der sogenannten „Bergehalde“ der Zeche Massener Tiefbau. An dieser Stelle, direkt an der Grenze zur Stadt Dortmund, wurde nämlich der Abraum der Kohleförderung aufgeschüttet. Die Halde, die unweit der riesigen Förderanlagen stand, wuchs bis Mitte der 1920er Jahre stetig an und war einst tatsächlich ein gut sichtbarer Berg in dieser Gegend. Schließlich wurde ein Teil des Abraums für den Bau der Autobahn 44 verwendet. Der Rest wurde nach und nach planiert und renaturiert und in eine stadtnahe Grünfläche verwandelt.
Dass hier nicht nur Zechentürme standen, sondern auch die Industriegebäude einer Kokerei und Brikettfabrik, das ist heute nicht mehr zu erkennen. Hier waren von 1859 bis zur Stilllegung 1927 tausende Menschen beschäftigt. Und es haben etliche Arbeitskräfte aus Polen hier gearbeitet – zehn, manchmal 12 Stunden schwerste Knochenarbeit im Steinkohlenflöz. Vor allem also eben „unter Tage“. Sie waren unter anderem auch aus Oberschlesien eingewandert, wo der Bergbau eine lange Tradition hatte. Und Frauenarbeit unter Tage war dort nicht unüblich. „Ja, es gab Frauenarbeit unter Tage vor 1865“, sagt die Historikerin Dagmar Kift vom Westfälischen Museum für Industriekultur, und meint damit besonders jene eigewanderten Frauen. Wie viele es hier vor Ort waren, lässt sich aber nicht mehr bemessen. Jedenfalls arbeiteten hier über einen längeren Zeitraum hunderte polnischer Kumpel, die in den Siedlungen in Massen oder auf der „anderen Seite“ in Dortmund und Holzwickede in engsten Verhältnissen wohnten.
Damals gab es im Revier zwischen Duisburg und Hamm eine große und lebendige polnische Kultur. Insgesamt lebten hier rund 500.000 Einwander*innen aus Polen. Eine gewaltige Anzahl. Hunderte von Kultur-, Kirchen- und Sport-Vereinen sowie politische und gewerkschaftliche Vertretungen waren registriert. Gibt es Unna heute nur noch einen einzigen Deutsch-Polnischen Kulturverein, so bestanden damals unter anderem ein polnischer Gesangsverein, ein Sport- bzw. Turnverein und auch die Gewerkschaft „ Zjednoczenie Zawodowe Polski“ war sehr aktiv. An jeder Ecke gab es polnische Zeitungen wie die „Wiarus Polski“ oder die „ Nadrodowiec“ zu kaufen. Die Kinder der Einwander*innenfamilien, die hier in einer „Preußischen Schule“ in deutscher Sprache unterrichtet wurden, konnten am Nachmittag und Frühabend im Sprachverein (genannt „szkowki“) die polnische Sprache pflegen.
Deutsche und polnische Familien lebten oft nebeneinander her, nicht selten aber miteinander. Und sie gingen vielfach Verbindungen ein. Viele Pol*innen passten sich der vorherrschenden Kultur an und ihre Eigenständigkeit schwand. „Assimilation“ wird das genannt. Auch ging der Einfluss der polnischen Einwanderung in den 1920 zahlenmäßig deutlich zurück. Nach der Neugründung des polnischen Staates nach dem Ersten Weltkrieg, verließen Tausende Pol*innen das Ruhrgebiet und siedelten in der Hoffnung auf Arbeit und Auskommen in einem neuen Polen zurück in ihre frühere Heimat. Andere wanderten in die Industriereviere nach Belgien und Frankreich weiter – wegen eines tatsächlichen oder vermeintlich besseren Einkommens. Die verbliebenen wurden mit mehr oder weniger Druck ihres deutschen Umfeldes in die hiesige Kultur aufgesogen. Und im Verlauf der 1930er Jahre und erst recht unter dem Eindruck des Nationalsozialismus wurde noch aus dem letzten masurisch-polnischen Beschäftigten ein „Deutscher Arbeiter“ – ob nun auf dem „Pütt“, im Stahlwerk oder auf dem Fußballplatz. So erging es übrigens den legendären Fußballern vom FC Schalke 04, die von den Nazis zu deren Propagandazwecken einfach „eingedeutscht“ wurden. Viele ließen es geschehen, andere setzten still ein Zeichen: So nannte sich der Schalke-Profi Adolf Urban stets „Ala“. Das ist der polnische „Spitzname“ für Adolf, den er wohl „vermeiden“ wollte.
Nach der Zeit des Faschismus wanderten viele Aus- und Übersiedler vor allem in die Bundesrepublik ein. Wie die sogenannten Russlanddeutschen führte deren Weg oft über die „Landesstelle Unna Massen“, die sie bei der Fluchtwege-Station 6 besuchen können.
Thomas beispielsweise gehört zu dieser Episode der polnischen Migrationsgeschichte. Oder doch nicht? Jedenfalls siedelten seine Eltern in der Nachkriegszeit von Polen über ins Ruhrgebiet. Als Deutsch-Polen? Als Polen-Deutsche? Thomas kann das selbst schlecht einschätzen. Er ist in Deutschland geboren und seine Eltern waren für ihn immer „eigentlich deutsch“. Erst viel später, bei Verwandtschaftsbesuchen in Polen, merkte er, dass sie doch „auch polnisch“ sind. Und seine Großeltern verwirrten ihn, weil sie sich eher als „Oberschlesier“ sahen. „Ich habe angefangen, mich erst so mit mitte-ende Zwanzig mit meiner Familiengeschichte zu beschäftigen. Als ich Unna und im Sauerland wohnte, war das noch nicht so. Erst an der Uni hat das angefangen, als ich im Grunde von meiner Familie entfernt gelebt habe“, sagt Thomas. „In der Region, in der meine Familie in Polen früher lebte gab es Polen und Deutsche, Juden, Ruthenen, Slowaken… Ja, es gab Polen, die konnten schlecht Polnisch und besser Deutsch. Es gab Leute, die sprachen Schlesisch und Deutsch, bekannten sich aber zu Polen.“ Thomas lacht: „Alles sehr bunt… sich mit seiner Identität zu beschäftigen ist heute eine gängige Sache. Ich bin da für mich sehr entspannt“.
Warum ist das so? Weil man mit polnischer Herkunft in Deutschland oder der EU weniger diskriminiert wird? „Hier (im Ruhrgebiet) ist das wohl so“, findet Thomas, „und es stimmt schon, man sieht den Leuten ja nicht an, ob sie polnisch sind. Die (polnischen) Nachnamen findest Du (hier) an jedem Klingelschild. Es ist nichts Besonderes… Aber das mit der EU, das stimmt so nicht. In England gab es viele polenfeindliche Demos. Eine echt üble Stimmung gegen Polen, also vor dem Brexit, auf jeden Fall. Es gab Sprüche, Polen sind „Ungeziefer“. Ein junger Pole wurde auf der Straße totgeschlagen. Die meisten hier in Deutschland wissen davon überhaupt nichts.“
Haben viele Deutsche nicht Vorurteile gegenüber Polen? Gemeint sind nicht die eher harmlosen Witze über den „Polnischen Handwerker“ oder „Spargelstecher“, sondern der Vorwurf, Polen seien erzkatholisch oder gar „rechts“... Thomas findet: „Ich glaube, man hat sich hier mit Polen nie richtig auseinandergesetzt. Polen sind lange Zeit ein Volk ohne Land gewesen. Sie gehörten mal zu Preußen oder Russland und sogar zu Österreich. Und im zweiten Weltkrieg haben die Deutschen und die Russen Polen überfallen. Von zwei Seiten… und sie haben abertausende Menschen auf dem Gewissen. Die Polen sind in Ihrem Verhältnis zu Deutschland und Russland also zu Recht in gewisser Weise sehr distanziert und argwöhnisch – ich muss das nicht gutheißen, aber ich kann es nachvollziehen… und das Vorurteil, die Polen sind konservativ und streng katholisch… ich finde, dass die Polen grundsätzlich eher freiheitsliebend sind, also liberal. Die katholische Kirche war immer so etwas wie ein Ersatz für den fehlenden Staat, eine Art Schutz. Dort konnten die Polen sich treffen… es war und ist so etwas wie eine Art Heimat. Im Kommunismus war das nicht anders.“
Die Bedeutung der polnischen Kultur und der polnischen Menschen in Unna, im Ruhrgebiet und in Deutschland wird oft unterschätzt. Häufig wird sie nicht einmal als besonders eigenständig wahrgenommen. Nicht nur aus diesem Grund nennt Peter Oliver Loew sein Buch über die Geschichte der Polen in Deutschland: „Wir Unsichtbaren“. Aber ohne die polnische Kultur hätten sich mit Sicherheit diese Stadt und die Region anders entwickelt. Allein schon der Sprache wegen. Aber nun: „Dalli, dalli, zur nächsten Station der Fluchtwege. Das kommt übrigens aus dem Polnischen und heißt dort „Dalej, dalej!“ Und bedeutet eben auch nichts anderes als: Weiter, weiter!
Nr. 33 Bahnhof Unna
Bahnhofstraße 74, 59423 Unna, DE
Bahnhof Unna – frühe Arbeitsmigration und Zwangsarbeit in Unna
Als der Bahnhof Unna 1855 gebaut wurde gab es Deutschland noch gar nicht. Er war Teil der Königlich-Westfälischen Eisenbahn, also Teil des Preußischen Eisenbahnstreckennetzes. Bereits 1833 war diese Preußische Strecke von Dortmund nach Soest geplant gewesen – also in einer Zeit, in der die Preußen selbst noch nicht lange ihre Herrschaft in dieser Gegend ausübten.
Mit dem Ende der „Franzosenzeit“, also der Niederlage Napoleons, wurde Europa unter den damaligen Siegermächten neu aufgeteilt. Fast ganz Westfalen ging damals an die „Preußen“. Auch die Grafschaft Mark und damit Unna. Die Unnaer Bürger*innen waren davon sehr angetan und es wird berichtet, dass die Bevölkerung begeistert Umzüge veranstaltet haben sollen, um den Machtwechsel zu feiern. Das hatte vorwiegend zwei Gründe: Erstens war die Grafschaft Mark und Unna seit über hundert Jahren politisch mit Brandenburg-Preußen verbunden und verbündet gewesen. Zweitens waren die Unnaer*innen, genau wie die Preußen, evangelischer Konfession. Die „richtige“ Religion zu haben, gemein ist die christliche Konfession: Das machte zu dieser Zeit eine Menge aus. Um den Unterschied zu verdeutlichen: Weiter nördlich im Kreis in Unna, nämlich in Werne, wurden die Preußen als fremde „ausländische Besatzungsmacht“ empfunden. Noch schlimmer war es in den angrenzenden ländlichen Gemeinden. Dort gab es praktisch nur eine Handvoll Protestanten. Und diese waren: Der Dorfpolizist, der Schulmeister, der Postmeister und so weiter. Hier wurden preußische Beamte tatsächlich als eine Art „regierungstreue Besatzungstruppe“ eingesetzt, die das amtliche Leben regelten und den Katholiken auf die Finger schauten. Noch gut fünfzig Jahre später, im deutschen Kaiserreich Ende des 19. Jahrhunderts beklagten sich Kaiser Wilhelm der zweite und die Berliner Regierung, dass die westfälischen Landkatholiken noch immer keine „richtigen Deutschen“ geworden seien und mehr auf den Bischof (in Münster) und den Papst in Rom hören würden.
Aber zurück zu Bahnhof nach Unna. Sein Bau und der Bau der Bahnlinie nach Soest gingen nicht ohne die Beteiligung von Arbeitsmigrant*innen von statten. Das Ruhrgebiet war noch keine Industrielandschaft wie Jahrzehnte später. Facharbeiter im Gleis oder Brückenbau mussten also aus anderen Gegenden und Ländern angeworben werden. Zum Beispiel aus Frankreich und aus Polen. Wie viele es genau waren, ihre Namen und die Ortschaften aus denen sie kamen – das wissen wir heute nicht mehr. Aber Migrant*innen aus etlichen Ländern gehörten zu den Erbauern des Bahnhofes in Unna und seiner Eisenbahnwege.
Bleiben wir beim Thema Eisenbahn und bleiben wir bei Migrant*innen, die in Unna für Mobilität sorgten. Wobei der Begriff „Migrant*innen“ eigentlich falsch ist, weil Zwang dahinter stehen wird.
Nach dem Bau des Bahnhofes kamen in den kommenden Jahrzehnten weitere Eisenbahnstrecken hinzu. Eine „Mittelding“ aus Straßenbahn, Stadtbahn und Eisenbahn führte zum Beispiel mitten durch die Stadt nach Süden. Eine andere Strecke verband den Bahnhof Unna mit Werne. Diese Strecke führte über Kamen. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts benutzten bis zu drei Millionen Fahrgäste allein nur diese Verbindung im Jahr. Das ist vergleichbar mit Zahl aller Fahrgäste auf allen Strecken, die heute von Bahnhof Unna aus bedient werden. Als im Verlauf des Ersten Weltkriegs immer mehr Eisenbahner als Soldaten eingezogen wurden, drohte der Bahnverkehr zusammenzubrechen. Die Strecke über Kamen nach Werne hatte damals mehr als einhundert Bedienstete, deren Zahl sich damals kriegsbedingt halbierte. Eine Einstellung des Bahnverkehrs drohte. So stellte die Bahn – damals völlig unüblich – Frauen als Schaffnerinnen ein. Für die Arbeiten im Rangierbetrieb, der Wagenkopplung, für Schienenarbeit und anderes mehr wurden hingegen nun Kriegsgefangene herangezogen: Aus Frankreich, Russland, Belgien, Italien und England. Was wir für die Strecke nach Werne heute recht genau wissen, kann auch für die anderen Zugstrecken von Unna aus angenommen werden. Und so dürften mehrere Hundert Kriegsgefangene bis zum Kriegsende 1918, anfänglich wohl unter schwerer Bewachung, ihre harte Arbeit geleistet haben müssen. Möglicherweise kamen diese gezwungenen neuen Eisenbahner aus den Kriegsgefangenenlagern bei Münster, wo über 90.000 von ihnen kaserniert wurden. Von einigen ist auch dokumentiert, dass sie in den Zechen in Hamm und auch in Unna-Königsborn arbeiten mussten. Ob manche aus dem nahen Lager aus Werl nach Unna geschickt wurden ist nicht bekannt. Ob und wo genau die Gefangenen auch in Unna selbst in diesen Jahren untergebracht waren, wer diese Menschen waren, was sie erlebt und erduldet haben – diese fast vergessene Geschichte ist bis heute noch nicht geschrieben worden.
Nr. 35 Philia Deutsch-Griechischer Verein Unna e.V.
Massener Straße 14, 59423 Unna, DE
An dieser Station finden Sie den deutsch-griechischen Verein „Philia“. Das griechische Wort „Philia“ bedeutet so viel wie „Liebe, Zuneigung“ aber auch „Freundschaft“ – Liebe und Zuneigung also zum Heimatland und seiner Kultur, aber auch zu Deutschland und Unna – und Freundschaft eben zwischen den Menschen hier und dort. „Fluchtwege“ nimmt diese Station zum Anlass, hier die Geschichte der griechischen Einwanderung seit den 1960er Jahren zu erzählen und sich damit auch erneut dem Stichwort „Gastarbeiter“ zu widmen. Allerdings trifft dieser Begriff „Gastarbeiter“ für griechische Einwander*innen nur teilweise und in vielen Fällen überhaupt nicht zu. Der Grund dafür liegt in einem – leider weitgehend vergessenen oder verdrängten – Kapitel der europäischen Nachkriegsgeschichte.
Aber zunächst tatsächlich zur Einwanderung von vorwiegend griechischen Männern in den frühen 1960er Jahren: Aufgrund des großen Arbeitskräftebedarf schloss die Bundesrepublik im Jahre 1960 mit Spanien und gleichzeitig mit der griechischen Regierung einen Anwerbeabkommen ab. Nach Italien (1955) waren somit Arbeitskräfte aus Griechenland mit die ersten neuen ausländischen Kolleg*innen hier vor Ort in Kohle, Stahl und Co. Bis 1962 kamen bis zu 80.000 vor allem aus den ländlichen Regionen des Landes: Aus Thessalien, Makedonien oder der Peloponnes. Allerdings setzte bereits kurze Zeit später eine enorme Rückwanderungswelle ein. Bis 1965-66 waren die meisten „Gastarbeiter“ aus Griechenland schon wieder ausgereist. Viele konnten sich mit den vorgefundenen Arbeits- und Lebensbedingungen und den oft deutlich zu niedrigen Löhnen nicht anfreunden. In Unna wohnten viele von ihnen in engen Werksunterkünften oder in unsanierten Altbauwohnungen in Massen, Königsborn oder in Zentrumsnähe. Umso überraschender aus heutiger Perspektive zog plötzlich ein Jahr später, nämlich 1967, die griechische Einwanderung nach Deutschland wieder enorm an. Auf Spitzenwerte mit bis zu 100.000 Menschen jährlich.
Waren dafür nun bessere Löhne in der hiesigen Industrie der Auslöser? Keineswegs. Verantwortlich war der Putsch einer Militärjunta 1967 in Griechenland. Die sogenannte „Obristen-Diktatur“ aus rechtsnationalen und antimodernistischen Militärs. Sie verhaftete Tausende Sozialist*innen, Liberale, Gewerkschafter*innen, Journalist*innen. Wer auch immer ihnen suspekt war, steckten die „Obristen“ in Lager und Gefängnisse. Viele wurden auch außer Landes gedrängt und ihre griechische Staatsbüger*innenschaft per Gesetz entzogen. Etwas, was übrigens in Deutschland nicht möglich ist. Die Demokratie, die in Griechenland ihre uralten Wurzeln hat, wurde abgeschafft.
Viele der vermeintlichen „Gastarbeiter“ ab 1967 waren in Wirklichkeit also eher politische Flüchtlinge, die aus Angst vor Verfolgung auswanderten oder nicht gemeinsame Sache mit einem unterdrückerischen Regime in ihrem Heimatland machen wollten. Und wer in der Heimat „politisch“ ist, der bleibt es auch oft in der „Fremde“. So wundert es auch kaum, dass es griechische Einwander*innen waren, die im Ruhrgebiet erste Kulturvereine gründeten, in denen man auch offen über die politischen Entwicklungen in Griechenland sprechen konnte. Dort war dies nämlich verboten. Und viele Griechinnen und Griechen beteiligten sich auch recht früh gesellschaftlich in Deutschland: Fast jede eine größere Firma im Ruhrgebiet und natürlich auch in Unna hatte griechische Betriebsräte oder Gewerkschafter*innen.
Die Rückwanderung von Griech*innen hielt sich zunächst in Grenzen. Diese begann erst verstärkt 1974 – dem Jahr, in dem die Militärjunta – nach einer blutigen Niederschlagung von Studierenden-Unruhen in Athen und einen Putschversuch auf Zypern – sich nicht mehr halten konnten und gestürzt wurde.
Das Thema „Gastarbeiter“ spielte in den 1960er und 1970er Jahren kaum eine Rolle. Die wenigsten Deutschen interessierten sich für deren Leben und begrüßten den Anwerbestopp im Jahre 1974 mehr oder weniger offen. „Integration“ spielte in Politik und Kulturbetrieb eine geringe Rolle. Daher überraschte es, als 1975 ein Musikprodukt die Spitzenplätze der Hitparaden stürmte: nämlich Udo Jürgens „Griechischer Wein“. Es war das erste Mal, dass sich die deutsche Populärkultur überhaupt mit „Gasterbeitern“ nennenswert beschäftigte. Das für damalige Verhältnisse sozialkritische Lied, das auch auf Griechisch veröffentlicht wurde, beschreibt die Sehnsucht und das Heimweh griechischer „Gastarbeiter“. Es wurde ein Riesenerfolg. Auch politisch! Und das besonders in Griechenland, das sich mit dem Schicksal ihrer Ausgewanderten in der Fremde immer beschäftigt hatte. Als besondere Ehrung dafür, dass sich Jürgens mit den Problemen der „Gastarbeiter“ auseinandergesetzt hatte, wurden er und sein Songtexter Michael Kunze nach Athen eingeladen. Durch Konstantinos Karamanlis, dem ersten nach der Diktatur demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Griechenlands.
Zurück in die Gegenwart: Auch heute noch wandern viele Menschen aus Griechenland nach Deutschland ein. Von „Gastarbeitern“ spricht niemand mehr. Wie viele in den letzten Jahren in die Region und nach Unna gekommen sind ist schwer zu sagen. Die sogenannte „EU-Migration“ lässt sich statistisch in den Kommunen nur unzureichend erfassen. Dabei ist die Auswanderung aus Griechenland dramatisch! Seit Beginn der Finanzkrise in Griechenland 2009/2010 haben rund zehn Prozent aller Griech*innen, vor allem junge Menschen, ihr Land verlassen. Mehr als 170.000 kamen nach Deutschland…. Zeit für einen neuen Song?
Nr. 36 Regionale Flüchtlingsberatung im Kreis Unna
Gerhart-Hauptmann-Straße 29, 59423 Unna, DE
Im Hause Gerhart-Hauptmannstraße 29 im Zentrum von Unna befindet sich die Regionale Flüchtlingsberatung der Werkstatt im Kreis Unna, einem Sozial- und Bildungsträger.
Die Kolleg*innen der Regionalen Beratung sind durch das NRW-Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration beauftragt, geflüchteten Menschen in jeder Hinsicht zu Helfen und sie bei rechtlichen, sozialen und auch lebenspraktischen Aspekten oder Problemen zu beraten und zu unterstützen.
An die Beratungsstelle wenden sich Geflüchtete aus vielen Fluchtnationen – aus afrikanischen Staaten, wie Guinea oder dem Kongo, aus dem Nahen Osten, hier zum Beispiel aus Syrien oder dem Irak oder auch aus Asien, wie z.B. Afghanistan oder Pakistan. Und selbstverständlich auch aus der Ukraine. Beraten werden alle. Ausgenommen sind Menschen, die nicht aus Fluchtnationen stammen, wie z.B. Bürger*innen der Europäischen Union.
Im Mittelpunkt der Beratungen stehen vor allem rechtliche und soziale Probleme, mit denen Flüchtlinge zu kämpfen haben: Von der Prüfung von Bescheiden des Bundesamtes für Migration und ihrer sozialen Leistungen, über die Aufarbeitung der Fluchtgeschichten bis zur Planung der nächsten Schritte der Schul-, Ausbildungs- und Berufskarriere, die im Zusammenhang mit dem Aufenthaltsrecht möglich ist. Hinzu kommen zum Beispiel die Planungen von Familienzusammenführungen aus dem Ausland, aber auch Hilfen bei der Beschaffung von ausländischen Dokumenten oder Pässen und beim Ausfüllen von Anträgen sowie die Erstellung von Einsprüchen und Klagen bei Ämtern und Gerichten.
Die Berater*innen stehen zusammen mit Geflüchteten in engen Kontakt mit deutschen oder ausländischen Ämtern, wie zum Beispiel der Ausländerbehörde und dem Jobcenter, aber auch mit Botschaften, Schulen, sozialen Einrichtungen, politischen Gremien, Anwält*innen, Richter*innen, Arbeitgeber*innen und vielen, vielen Ehrenamtlichen Helfer*innen. So vielfältig wie die Aufgaben der Berater*innen für und mit Geflüchteten sind, so vielfältig müssen auch deren Kenntnisse sein. In der Regel sprechen die Berater*innen neben Deutsch auch Englisch und Französisch – es können aber auch Dolmetscher*innen für andere Sprachen hinzugezogen werden. Und sie müssen im Sozial- und Ausländerrecht stets auf dem neuesten Stand sein und über ein gutes Netzwerk von professionellen und freiwilligen Expert*innen verfügen. Aber wissen und Kenntnisse allein genügen nicht, gefragt ist auch ein sensibler und respektvoller Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen. Das ist notwendig und sehr wichtig! Im Grunde treffen die Geflüchteten auf Berater*innen die eine Art „Mischung“ aus Sozial- und Kulturexpert*innen und Rechtsberater*innen darstellen. Und genau wie Anwält*innen besitzen die Berater*innen die sogenannte „Rechtsauskunftsfähigkeit“.
Die Regionale Beratung kann von allen erwachsenen Geflüchteten aufgesucht werden. Minderjährige werden durch eine besonders ausgebildete Beratung betreut, die sich ebenfalls an diesem Standort befindet. Eine weitere Regionale Flüchtlingsberatung betreibt im Auftrag des Ministeriums die Caritas. Diese befindet sich bei Station 26 in der Höingstraße.
Ansprechperson:
Michael Koch
Telefon: 02303 9599043
mobil: +49 176 12805042
fluechtlingsberatung@werkstatt-im-kreis-unna.de