Eine Tour durch Unna zu Stationen mit historischem Bezug zum Themrn Flucht und Migration. Der Rundgang besteht aus etwa 15 Stationen im Zentrum und in Königsborn und lässt sich fußläufig in maximal zweiein-halb Stunden bewältigen.
Autor: Werkstatt im Kreis Unna
16 Stationen
Nr. 4 Ehemaliger “Elendighof“ Unna
Hammer Straße 6, 59425 Unna, DE
Ehemaliger “Elendighof“ Unna
Hier, unweit des einstigen nördlichen Stadttors von Unna, „Vieh-Tor“ genannt, lag an der Ecke Hammerstraße und Viktoriastraße der sogenannte „Elendighof“. Wer hier das Wort „Elend“ heraushört liegt richtig, in anderen Gegenden hießen solche Einrichtungen auch beispielsweise „Elendenhäuser“.
Der Elendighof war eine feste Unnaer Institution vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Lebten zu diesen Zeiten dort die armen Unnaer*innen? Klare Antwort: Nein. Arme oder mittellose Bürger*innen der Stadt waren im Armenhaus, das an der heutigen Schulstraße lag, untergebracht. Sie gehörten zu den festen Stadtbewohner*innen und durften sich innerhalb der Mauern der Stadt aufhalten und dort mit Erlaubnis betteln. Wohnten im Elendighof vielleicht kranke Menschen? Auch das eher nicht. Krankenhäuser im heutigen Sinne existierten in diesen Zeiten kaum, wohl aber „Siechenhäuser“, in denen chronisch Kranke, Seuchenopfer, vor allem Menschen mit Lepra, wohnten. Diese waren ebenfalls Bürger*innen aller Schichten aus Unna, die sich als „Aussätzige“ nicht in der Stadt aufhalten durften. Das Unnaer Siechenhaus (auch „Leprosorium“ genannt) lag unweit des südlichen Stadttors am Hellweg Richtung Werl. Die Lepra-Kranken wurden teils von ihren Familien aus Unna versorgt, besaßen aber zusätzlich eine offizielle „Bettelerlaubnis“, um die eher wohlhabenden Reisenden auf dem stark frequentierten Hellweg um Spenden zu bitten.
Tatsächlich war der Elendighof vor dem Vieh-Tor für mittellose „Ausländer*innen“ eingerichtet worden. Hier wurden all jene untergebracht, die nicht zur Stadt gehörten, keine Erlaubnis hatten die Stadt zu betreten oder auch kein Geld besaßen sich eine Herberge in Unna leisten zu können. Menschen also die in der Regel aus dem sozialen Gefüge der damaligen Gesellschaft überall herausgefallen oder ausgestoßen waren: stellungslose Knechte, arbeitslose Tagelöhner*innen, Vogelfreie, Vertriebene, etliche Flüchtlinge aus kriegerischen Konflikten, oft auch invalide ehemalige Soldaten, die zum Kriegshandwerk nicht mehr taugten und sonst nicht viel gelernt hatten - viele Männer, wenige Frauen und Kinder. Auch etliche einfache Pilger*innen fanden hier Unterschlupf. Allesamt waren es Menschen aus vielen Gegenden und Ländern. Menschen von Irgendwo auf dem Weg nach Nirgendwo – heimatlos und mittellos. Im Elendighof konnten sie für eine Nacht oder wenig länger Station machen, wenn sie erschöpft oder erkrankt waren, wenn die Wetterlage oder die Straßenverhältnisse eine Weiterwanderung unmöglich machte.
Der Elendighof war eine Massenunterkunft mit all ihren prekären sozialen Zuständen. Es gab Gemeinschaftsschlafplätze, ein warmes Feuer und eine knappe, einfache Mahlzeit aus Brot, Getreidebrei und Suppe – mehr nicht. Und es bestand die Regel, keinen weiteren Einlass in die Stadt Unna zu begehren, sondern weiterzuziehen. Für die Menschen, die dort Quartier fanden hatte dies trotz manchen Unannehmlichkeiten auch Vorteile: Die Einrichtung bot, da sie unter Kontrolle der Stadt Unna stand, einen gewissen Schutz vor Übergriffen. Zudem war sie als Treffpunkt vieler Fremder eine Art „Informationsbörse“, was zum Beispiel zukünftige Wanderrouten anging oder wo man als Fremde oder Fremder gut oder schlecht behandelt würde und vielleicht Arbeit bekam und in welchen Ländern und Gegenden es friedlich oder eher kriegerisch zuging.
Die Stadt Unna war für den Elendighof zuständig – auch wohlhabende Bürger*innen und mitleidige Spender*innen beteiligten sich am Unterhalt. Wahrscheinlich war an der Betreuung der Einrichtung auch das Beginen-Konvent aus Unna beteiligt: Eine kleine religiöse Gemeinschaft von Frauen, die jedoch keine Klostergemeinschaft bildete und die karitativ tätig waren. Jedenfalls war die Hilfe für Bedürftige und das Almosengeben an Arme, Kranke und Waisen damals „Christen*innenpflicht“, ganz nach dem biblischen Leitsatz, der da lautet: „Gib das Geld den Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben!“. Ob mit solchen Spenden immer oder ausschließlich ein frommes, religiöses Motiv verbunden war ist indes zweifelhaft. Eine feste Einrichtung für umherziehende „Ausländer*innen“ zu unterhalten verfolgte auch den Zweck die fremden Leute „von der Straße“ zu holen. Damals gab es nämlich die Befürchtung, dass „herumstreunende Fremde“ womöglich die Händler*innen und Bauernleute auf den Wegen und die Bürger*innen vor den Toren anpöbeln, anbetteln oder erpressen, ausrauben oder umbringen würden, wenn man sie nicht „kontrollieren“ würde. Ihnen wurde also als Gruppe einfach unterstellt, nichts anderes als Vagabund*innen, Gauner*innen oder Räuber*innen zu sein. Nun, Vorurteile und Ängste gegenüber Fremden sind also nicht neu.
Der Elendighof verschwand dann mit der „Franzosenzeit“ und der nachfolgenden preußischen Machtübernahme. Die politischen und sozialen Verhältnisse hatten sich geändert. Er wurde aufgegeben und dann abgerissen. Der Name aber lebte weiter fort, denn die Straße an der er einst stand hieß bis in zwanzigste Jahrhundert hinein immer noch „Elendighof“. Erst 1908 wurde diese „elendige Bezeichnung" durch den Namen der Gattin des deutschen Kaisers Friedrich III getilgt. Fortan heißt die Straße bis heute „Viktoriastraße“.
Erinnert den einen oder die andere jener Elendighof irgendwie an eine heutige Einrichtung für Asylsuchende? Nun, zumindest räumlich gesehen ist das gar nicht so falsch. Etwa dreihundert Meter entfernt an der Ecke Viktoriastraße und Höingstraße befinden sich heute wieder Flüchtlingsunterkünfte der Stadt Unna.
Nr. 6 Erstaufnahmeeinrichtung des Landes NRW
Lippestraße 37, 59427 Unna, DE
»…ist das riesig!«
Elena erzählt Euch ihre Geschichte
Elena Bybotschkin reiste in den 1990er Jahren mit ihren Eltern als Kind aus der russischen Provinz nach Deutschland. Als sogenannte »Russlanddeutsche« war ihre erste Station das »Lager« in Unna-Massen, wo sie mit drei Koffer anka-men.
Elenas ersten Erfahrungen in Deutschland waren unge-wohnt, fremd und auch, wie sie sagt: »…für mich sehr angst-einflößend.« Vieles war beeindruckend und selbst ein Ein-kaufszentrum hinterlässt einen besonderen Eindruck: »Wo ich so davorstand und gedacht habe, boah, ist das riesig.« Elena kann viele schon zuvor ausgewanderte Verwandte in die Arme schließen – das scheint für sie ein wichtiger Anker in Deutschland gewesen zu sein – neben ihren Eltern selbst-verständlich, die ihr ein besseres Leben ermöglichen wollten. Ihr Vater sprach Klartext: »… Deutsch ist Zugang zur Gesell-schaft, lernt was, haut rein, hier könnt ihr, habt ihr supervie-le Chancen, was zu werden.«
Kein einfacher Weg für die ehemalige »Einser-Schülerin« aus Russland, die nun in der Schule ganz von Vorne anfangen muss und sich manchmal lieber unsichtbar machte: »Ich bin schon häufig aus der Klasse weggerannt die erste Zeit. Die mussten mich dann schonmal fleißig alle suchen. Da habe ich mich versteckt.« Aber Elena schaffte die Hürden von Sprache und Schule, trotz einer Behinderung. Nach einer Berufsaus-bildung lebt und arbeitet sie als Therapeutin in Unna. Und sie mag die Stadt gerne.
Ob sie nach Russland zurückkehren würde? Ja, für eine Reise vielleicht – auch um ihre Muttersprache wieder zu sprechen und auf den neusten Stand zu bringen. Aber für mehr oder längere Zeit wohl doch nicht. Hier haben sich E-lenas Ansichten und Ansprüche was Freiheit und Demokratie angeht geändert: »Ich möchte da nicht hin, weil die Werte die ich jetzt vertrete, passen einfach nicht mit denen über-ein, die da gewünscht sind.«
Das komplette Interview können Sie hier hören oder lesen: https://www.fluchtwege-unna.de/interview-sp%C3%A4daussiedlerin-russland
Nr. 9 Firma Dröge und Koch (Metallbau)
Oberer Kohlenweg 15, 59425 Unna, DE
Firma Dröge & Koch – Arbeitsmigration gestern und heute
An dieser Station befand sich bis 1984 das Werksgelände der Firma Dröge & Koch. Es handelte sich um ein großes, traditionsreiches Unnaer Stahlbauunternehmen. Es wurde 1857 gegründet, der Zeit des großen Aufschwungs der Metall- und Stahl- und Bauindustrie.
Menschen aus anderen Ländern arbeiteten im Metall- und Bausektor seit Gründung der Firma. Bekannt wurde Dröge & Koch indes durch die Anstellung vieler türkischer sogenannter „Gastarbeiter“ seit 1961. In diesem Jahr wurden, durch den Abschluss des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens, auch gezielt Arbeiter aus der Türkei eingestellt, um den Arbeitskräftemangel zu decken. Dröge & Koch stellte zunächst die meisten türkischen Arbeitskräfte in Unna ein, es waren
etwa 30 Männer, vor allem aus Anatolien. Wie wichtig diese neuen Arbeitskräfte waren zeigt sich daran, dass der Chef der Firma damals selbst die neuen Kollegen am Bahnhof abholte. Die Zeiten der Millionen „Gastarbeiter“ in Deutschland und Unna sind lange vorbei. Die Fluchtwege-Station 35 erzählt einen Teil ihrer Geschichte. Heute gibt es selbstverständlich auch Migrant*innen in den Unnaer Firmen – zumal in der Industrie.
Da sind die Einwanderungsgeschichten von Mohamad und Amin:
Mohamad kam Ende 2015 aus Marokko nach Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt war er noch 17 Jahre alt. „Für uns junge ist es Marokko nicht einfach“, erklärt Mohamad, „wenn Du keine wohlhabende Familie hast oder gute Beziehungen. Ich habe fünf Geschwister, mein Vater verdiente wenig Geld. Nach der Schule hast Du wenig Möglichkeiten. Dann machst Du irgendeine schlechte Arbeit. Davon kannst Du kaum leben. Die meisten jungen Männer haben den Traum, nach Europa zu gehen.“ Und das tat er dann auch.
War es eine Flucht? „In Marokko ist kein Krieg wie in Syrien. Es gibt keine Taliban wie in Afghanistan. Hier fliehst Du wegen der Armut. Der Arbeitslosigkeit. Touristen sehen das nicht am Meer in ihren Hotels oder in Marrakesch. Marokko ist sehr schön. Ja, wenn Du Geld hast, Beziehungen. Du kannst auch nichts gegen den Staat sagen. Gegen den König oder die Leute, die die Macht haben, die reichen Familien. Du fliehst vor der ganzen Frustration. Es ändern sich dort nicht wirklich etwas. Wenn Du weggehst, dann kannst du dein Leben finden, neu anfangen. Du kannst es versuchen.“
Mohamad schmuggelte sich in heimlich in einen LKW ein, der mit einer Fähre nach Spanien fuhr. Er versteckte sich in der Ladung. Bis Anfang 2016 war das noch manchmal möglich. Heute werden die Transitfahrten strengsten kontrolliert. War das für Mohamad ein Risiko? „Nicht so gefährlich, wie für die Menschen, die heute mit dem Boot übers Mittelmeer fahren“, sagt Mohamad, „aber viele wurden erwischt. Du wirst dann an die Polizei in Marokko ausgeliefert. Du kommst erstmal schnell in den Polizeiknast. Auch wenn Du eigentlich kein schlimmes Verbrechen begangen hast. Wenn Du Geld hast, kommst Du schnell frei, wenn nicht…“. Mohamad macht eine vielsagen Handbewegung: „...du bist ein nichts.“
Ob er gezielt nach Deutschland gekommen ist? Mohamad wiegt den Kopf hin und her: „Vor allem wollte ich nicht nach Frankreich oder nach Belgien. Obwohl ich gut Französisch spreche. Die Verhältnisse für Marokkaner und Algerier sind einfach schlimm dort. Viele leben nicht besser als in ihren Ländern. Oder schlechter. Viele sind illegal dort. Wenn sie krank sind gehen sie aus Angst entdeckt zu werden nicht zum Arzt. Wie in Brüssel. Ich war eine Woche dort. Dann bin ich weiter nach Deutschland. Es gibt Gewalt untereinander, auch viel mehr Rassismus als in Deutschland.“ Und wie kam er nach Unna? „Ich wurde damals in die Jugendhilfe gebracht. Ausgesucht habe ich mir das nicht. Aber dort war es richtig gut. Ich wurde fair behandelt. Freundlich. Es gab Unterstützung für die Schule und ich bekam nach sechs Monaten schon ein Praktikum in einer Bäckerei.“ Er machte dort im Betrieb einen hervorragenden Eindruck: „Ich bekam ein Angebot für eine Ausbildung als Bäcker! Aber das klappte dann doch nicht.“ Tatsächlich bekam er nicht die Erlaubnis zu arbeiten und hatte schlechte Karten für einen Aufenthaltstitel. „Das war schlimm für mich. Ich wollte arbeiten und mein Geld selbst verdienen, durfte aber nicht! Das ist einfach krank!“.
Was Mohamad in den kommenden zwei Jahren durfte, das war die Schule zu besuchen. Er nutzte die Zeit, machte einen Hauptschulabschluss. Das Betriebspraktikum machte er in Unna in einem Industriebetrieb: „Mir gefiel es sehr gut dort“, erzählt er, „ der Meister fragte dann auch, ob ich mir vorstellen kann, eine Ausbildung zu machen. Es ist ein seltener Beruf, der mit Glasverarbeitung zu tun hat.“ War das Mohamads Wunsch? „Das kann man so nicht sagen“, lacht er, „ich wusste nicht einmal, dass es so einen Beruf überhaupt gibt. Aber ich fand das alles sehr interessant und das Einkommen ist für mich riesig gewesen. Ich dachte erst, dass ich keine Chance habe im Vergleich zu den deutschen Bewerbern. Aber es gab kaum welche.“ Warum nicht? Mohamad sagt es ein wenig verlegen: „Einmal, weil die Berufsschulklasse für die Ausbildung in Essen ist. Das ist wohl für manche Deutsche zu weit – und später ist auch zum Teil die Arbeit eine Schichtarbeit. Ich glaube, die Deutschen sind oft sehr… bequem“. Mohamad steht heute am Ende seiner Ausbildungszeit. Er wird in den Betrieb übernommen und bleibt in Unna wohnen: „Ich habe Glück gehabt“, sagt er, „und ich habe mich angestrengt, weil ich ein gutes Leben haben will.“
Das war auch der Grund, dass Amin 2015 aus Afghanistan nach Deutschland flüchtete. Er kommt aus einer für dortige Verhältnisse gut situierten Familie aus Kabul. Aber die Terror der Taliban, die Anschläge und die katastrophale Lage in diesem Land sorgten dafür, dass seine Eltern ihn mit Schleppern aus dem Land bringen ließen. 8.000 Dollar zahlte die Familie für eine „sichere“ Flucht über die sogenannte „Balkanroute“ ihres minderjährigen Kindes. Ziel war Österreich.
„Ich hatte im dunklen LKW viel Angst. Wir waren tagelang dort eingesperrt. Bekamen ein wenig zu Trinken, kaum etwas zu Essen. Wir wussten nicht, wo wir waren. Die Männer, die uns fuhren oder am Tag uns versteckten sprachen kaum mit uns“, erklärt Amin. „Wir hatten Angst ausgeraubt zu werden oder geschlagen. Das gab es auch! Oder dass man uns verschwinden lässt. Die Schlepper wechselten häufig und machten sich auch über unsere Angst lustig. Sie spielten damit und erschreckten uns.“
„Ich war sehr erleichtert, als ich in Österreich ankam. Dort bin ich mit dem Zug nach Deutschland gefahren. Ich bin in Dortmund angekommen. Den Namen der Stadt hatte ich mal gehört. Unna war für mich unbekannt.“ Amin wurde später als Flüchtling aus Afghanistan anerkannt. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits volljährig, wurde zunächst aber noch eine Weile in der Jugendhilfe betreut. Er bekam schnell Anschluss an die Schule und machte nicht nur seinen Hauptschulabschluss sondern auch gleich noch die Fachoberschulreife hinterher.
„Es war mein Traum, zu studieren“, erzählt er, „das ist bis heute so geblieben. Aber ich habe dann doch einen Ausbildungsplatz gesucht und schnell gefunden. In der Anlagenelektronik. Ich wollte einfach Geld verdienen, meine Eltern in Afghanistan unterstützen, meine Geschwister. Ich wollte nicht länger warten, mein Leben selbst zu führen und zu bestimmen. Abi machen und dann ein paar Jahre studieren… das dauert mir einfach zu lang.“ Heute arbeitet Amin in Unna in der Industrie und ist mindestens zufrieden. Er hat eine Freundin gefunden und plant deutscher Staatsbürger zu werden: „Studieren“, findet er, „ist immer noch mein Traum, vielleicht mache ich das auch noch – aber jetzt will ich erstmal leben“.
Nr. 10 Wohnplatz für „Wandergesellen“ (heute Standesamt)
Klosterstraße 12, 59423 Unna, DE
Standesamt, ehemalige Herberge für Wandergesellen
In diesem schmucken Fachwerkhaus, in dem jetzt das Standesamt Unna untergebracht ist, waren von 1884 bis um 1900 die Handwerksgesellen auf Wanderschaft untergebracht. Wandergesellen waren eine ganz besondere gesellschaftliche Gruppe. Es gab sie in Europa seit dem Mittelalter, vor allem aber seit dem 16. Jahrhundert, für nahezu jedes Handwerk.
Das Handwerk war in diesen Zeiten in sogenannten Zünften streng hierarchisch organisiert. Je größer eine Stadt war, desto vielfältiger waren die Handwerke und umso mehr Zünfte gab es. Typisch für jede Stadt und damit auch in Unna waren die Zünfte der Schmiede, Zimmerer, Fleischhauer, Böttcher (also Fassmacher) oder Brauer. Deren Produkte wurden immer und überall benötigt. Andere Handwerke waren je nach Land, Region, Rohstoffen oder Traditionen mal mehr, mal weniger oder eben gar nicht anzutreffen. So gab es Unna weder eine Zunft der Blankschmiede (die, wie in Solingen, Schwerter und Messer herstellten), noch gab es Büchsenmacher oder Seidenweber*innen, stattdessen aber aufgrund der Solevorkommen in Königsborn die Salzsieder.
Die Handwerkszünfte waren wie die Kaufmannsgilden wohlhabende und in den Städten einflussreiche Institutionen, die nach strengen Regeln organisiert und aus den Reihen ihrer Handwerksbetriebe und -Meister auch den Zunftmeister wählten. Frauen arbeiteten zwar im Handwerk mit und stellten in machen Handwerken sogar die Mehrheit, wie bei den bereits erwähnten Seidenweber*innen. Meisterinnen oder Zunftobere konnten sie in der Männergesellschaft des Mittelalters und frühen Neuzeit aber nicht werden. Eine den Regeln entsprechende Ausbildung war nur den Männern vorbehalten. Auch jüdische Menschen waren aus fast allen Handwerken ausgeschlossen. Und für die wenigen Tätigkeiten, die sie ausüben durften, war die Bildung einer Zunft verboten.
Alle Handwerksbetriebe bildeten Lehrlinge aus. Oft waren das Familienmitglieder, aber auch begabte männlichen Sprösslinge außerhalb der eigenen Verwandtschaft. Nach drei bis vier Jahren erfolgreicher Lehre gab es den „Gesellenbrief“. Das reichte aus, um im heimatlichen Betrieb und Beruf ein Auskommen zu haben. Wer jedoch Karriere machen und wirtschaftlich und sozial weiter aufsteigen wollte, der musste zwangsläufig als Geselle auf Wanderschaft gehen. Dies war Grundvoraussetzung für die Erlangung des Meistergrades und in allen Zünften vorgeschrieben. Als „Fremder“, so hieß die Bezeichnung für wandernde Handwerksgesellen, musste der Geselle zwischen drei bis sechs Jahren an fernen Orten bei anderen Meistern der gleichen Zunft gearbeitet haben. Und dies hatte er mit einem von der Zunft unterschriebenen Zeugnis, der sogenannten „Kundschaft“, nachzuweisen. Wer keine Kundschaft bekam, der wurde auch nicht zugelassen, Meister zu werden.
Was war der Grund für diese Jahrhunderte lange „Tradition“ dieser Wandertätigkeit? Nun, die in den typischen Arbeitspraktiken bereits grundlegend ausgebildeten Gesellen sollten so vor allem neue Techniken, alternative Werkstoffe sowie fremde Orte, Regionen und Länder mit anderen Vertriebsnetzwerken kennenlernen. Und zudem Lebenserfahrung sammeln. Es war also eine gezielte Wanderung im Sinne eines Wissensaustauschs – heute würde man sagen: Arbeitsmigration zum Zweck des Wissenstransfers. Wandergesellen waren also durchaus begehrt. Je weiter sie in der Welt herumkamen desto besser für ihre zukünftige Karriere und desto wertvoller waren ihre neuen Kenntnisse für die heimischen Handwerksbetriebe zu denen sie zurückkehrten, um dort Produktion und Vertrieb zu optimieren. Es war also eine echte win-win-Situation.
Und noch einen sozialen Vorteil hatte die Wandertätigkeit. Ein Zunftmeister musste seinen Gesellen die Wanderschaft erst erlauben. Lief ein Handwerksbetrieb gut, gab es genügend Aufträge und Rohstoffe, dann benötigten Handwerksmeister ihre Gesellen vor Ort. Dort hatten sie ein gutes Auskommen. In wirtschaftlich schlechten Zeiten konnte aber der Betrieb nicht alle Gesellen ernähren – und statt in die Armut oder Arbeitslosigkeit zu geraten, konnten nun die Meister ihre Gesellen fortschicken. Die (Aus-)Wanderung der Gesellen in andere Städte, Regionen und Länder, deckte also den dortigen Arbeitskräftebedarf im Handwerk, wenn zuhause wenig Nachfrage bestand. Somit war die Wanderschaft der Gesellen eine frühe Art der „Arbeitsmarktregulation“.
Wandergesellen waren also wichtig für das Handwerk und damit für die Städte oder Orte, in die sie einreisten. Sie waren aber auch aber „gefürchtet“. Das lag vor allem daran, dass sie unter dem Schutz der Zünfte in der Stadt lebten – jedoch keine Stadtbürger waren. Im juristischen Sinne bedeutet das: Sie zahlten in der Regel keine Steuern und unterlagen auch nicht den Regeln und Gesetzen der Stadtgemeinschaft – sondern fast ausschließlich ihrer Zunft. Machte also ein Wandergeselle „Dummheiten“, dann kam er nicht vor ein Gericht der Stadt oder des Landesherrn, sondern musste sich vor dem Zunftmeister verantworten. Und der ging eher nachsichtig mit seinem Schützling um. Um sie von den heimischen Handwerker zu unterscheiden, trugen sie stets eine besondere Kleidung, die „Kluft“, die ihren Stand und auch ihren Stolz repräsentierte. Wandergesellen durften für gewöhnlich nicht heiraten. Denn sie waren keine Bürger. Sie besaßen kein Ansiedlungsrecht – obwohl sie wirtschaftlich gesichert und geschützt waren. Das machte sie zu recht freien, abenteuerlustigen Burschen, die sich allerlei herausnahmen – und auch zu durchaus begehrten Junggesellen in den Augen mancher Frauen. Immerhin waren die weit herumgekommen Wandergesellen viel spannender als die langweilige heimische Männerwelt. In Unna dürfte bis in 19. Jahrhundert ständig eine Gruppe von einem oder zwei Dutzend Wandergesellen gelebt haben
So bestand aber auch ein gewisser Bedarf an sozialer Kontrolle der Wandergesellen in einer Stadt. Eine solche Funktion hatte in Unna jene 1884 durch den damaligen Bürgermeister Adolf Eichholz ins Leben gerufene Unterkunft für Wandergesellen namens „Herberge zur Heimat“. Wo die Wandergesellen zuvor untergebracht waren, wissen wir heute nicht mehr. Jedenfalls fanden nach Unna eingereiste Wandergesellen hier einen Schlafplatz und einen Raum für günstige Mahlzeiten. Zudem kam ein „Schaumeister“ in die Herberge, um potenzielle „Kandidaten“ für die Handwerksbetriebe zu inspizieren und bei Bedarf und Eignung anzuwerben. Es war übrigens den Wandergesellen verboten Frauen in die Herberge einzuschleusen – und wer sich danebenbenahm, der wurde auf einer „Schwarzen Tafel“ mit Namen und Vergehen für alle gut lesbar aufgeschrieben und aus dem Haus und der Stadt verwiesen. Wer durch einen Handwerksmeister angeworben wurde, der verließ die Herberge nach einer Weil. Er wurde nun in der Stadt durch den Handwerksbetrieb untergebracht. Bis zur Gründung des deutschen Nationalstaats 1871 erledigten die Zünfte noch alle „amtlichen“ Angelegenheiten für die Wandergesellen. Auch in Unna. deren Dokumente wurden dann in der „Zunftlade“ aufgehoben. Niemand anderes als die Zunft hatte darauf Zugriff. Nicht einmal die städtische oder landesherrliche Obrigkeit.
Wenn Ihnen heute Wandergesell*innen in ihrer schwarzen Kluft und mit Wanderstab begegnen, dann setzen diese jungen Leute, Männer wie nun auch Frauen, eine alte Tradition fort, die um 1900 weitgehend erloschen ist. Die Industrialisierung setzte der Handwerksproduktion in vielen Fällen ein Ende. Die Zünfte hatten längst ihre Sinn und ihren Einfluss verloren. In Unna benötigte man das Gesellenhaus nicht mehr. Es gab keine Nachfrage mehr danach.
Nr. 11 Stadtkirche
Kirchplatz 1, 59423 Unna, DE
Die evangelische Stadtkirche Unna
Die Stadtkirche in Unna ist auch heute noch ein imposantes Bauwerk. Sie ist kein riesiger Dom wie in Köln, es stecken dennoch enorme Mengen an Stein und Spezialwissen in diesem Bauwerk, die man vor 700 Jahren benötigte, um dieses Gotteshaus zu errichten. Die meisten Menschen mögen heute denken, dass am Bau dieser Kirche viele Bürger*innen der Stadt Unna beteiligt waren, also eine Art wunderbarem städtischen Gemeinschaftswerk, das über viele Jahrzehnte die Unnaer*innen ernährte. Eine schöne Vorstellung – die allerdings falscher nicht sein kann. Bis auf die Versorgung mit wenigen Grundstoffen und ein paar einfachen Werkzeugen hatten die Bürger*innen der Stadt mit dem Bau „ihrer“ Kirche nichts zu tun – es war das Werk von Migranten. Fachkräfte – allesamt Männer – aus dem „Ausland“ bauten das, was uns heute als „typisch“ Unna“ oder westfälisch erscheint. Wie kann das sein? Nun, der Grund hat einen Namen – und der heißt „Bauhütte“.
Aber erzählen wir den Kirchenbau in Unna von Beginn an. Die erste Kirche in Unna, die sich wohl am selben Ort wie heute befand, wird im Jahre 1032 erwähnt. Es war eine Holzkirche und sie war ziemlich klein – Unna war ja selbst kaum größer als ein Dorf heutzutage. Im 11. oder 12. Jahrhundert verschwand die Holzkirche. Es folgte eine erste Kirche aus Stein. Diese war im romanischen Stil gehalten. Sie war etwas größer, technisch und künstlerisch gesehen aber nicht besonders qualitätvoll oder kompliziert: Die Wände waren dick, eher niedrig, aus grob behauenen Steinen und viel Mörtel zusammengehalten. Die Fenster waren schmal, der Turm kurz und massig, weil man befürchtete, dass zu dünne und hohe Turmmauern dem Gewicht einer Glocke nicht standhalten würden. Der Bauschmuck dürfte gering und bescheiden gewesen sein. Die Leitung für den Bau des ersten Holzkirchleins und der romanischen Steinkirche hatte jeweils ein Kleriker aus der Gegend um Unna, in der Regel ein Mönch aus einem der nahen Klöster, der sich mit Baukunst befasste. Ausgewählte Mönche aus den Klöstern hüteten zu dieser Zeit das Wissen der Steinbaukunst – ein Wissen, das größtenteils noch aus der Antike stammte. Zusammen mit einem Trupp Klosterbrüdern und örtlichen Handwerkshelfer*innen machte er sich ans Werk. Die Ergebnisse waren schlicht und praktisch – völlig ausreichend für diese Epoche.
Spätestens Anfang des 14. Jahrhunderts wurde die Kirche zu klein. Die Stadt war kräftig gewachsen, wie fast überall. Zudem kamen immer mehr Pilger*innen nach Unna, denn der Ort liegt an einer wichtigen regionalen Strecke des berühmten Pilgerweges nach Santiago de Compostela im fernen Spanien – auch „Jakobsweg“ genannt. Pilger*innen waren wichtig: Sie steigerten das Ansehen der Stadt, spendeten an die Kirche. Die Reichen unter ihnen verlangten nach einer gehobenen Unterkunft und kauften allerlei Waren in der Stadt. Sie beförderten die städtische Wirtschaft – sofern sie länger blieben, also Kirche und Stadt attraktiv genug waren. Eine neue, größere Kirche musste her. Unbedingt. Diese sollte natürlich groß und schön und vor allem „im neuen Stil“ gebaut sein. So nannte man den Baustil der Gotik seit Mitte des 13. Jahrhunderts einfach.
Also her mit dem Bauauftrag! Und der ging zu dieser Zeit nicht mehr an ein Kloster, sondern an eine „Bauhütte“. Die Zeiten hatten sich gewandelt: Im 14. Jahrhundert waren die Macht der Klöster längst dahin. Das Wissen über Baukunst war „ins Volk“ gewandert - in eben jene Bauhütten, die mit der Entwicklung der gotischen Architektur in Frankreich entstanden waren. Von Frankreich aus etablierten sich fast überall in Europa Haupt-Bauhütten: in Köln, Straßburg oder Wien. Sie hüteten als feste „Bruderschaften“ die neuen Techniken und Methoden der Steinbaukunst. Hohe Fenster, lichtdurchflutete Hallen, Spitzbögen, Stützpfeiler und Steingewölbe, steile Türme und filigraner Bauschmuck gehörten zum Programm gotischer Kathedralen – und eben auch kleinerer Kirchen, wie in Unna. Niemand anderes kannte sich mit Bautechnik und Architektur aus. Niemand durfte es.
So geschah es auch in den ersten Jahren des 14. Jahrhunderts, dass der zuständige Bischof, zusammen mit dem märkischen Grafen Engelbert II. , wohl über Mittelleute in Soest, bei der großen Kölner Hauptbauhütte um eine Bauhütte für Unna nachsuchte. Dem Antrag wurde stattgegeben als dann auch die Baukosten verhandelt waren. Noch vor dem „ersten Spatenstich“ für die Kirche selbst wurde zuerst die Bauhütte in Unna, wahrscheinlich auf dem Platz vor der heutigen Kirche, eingerichtet. Das geschah etwa um das Jahr 1320.
Wie sah die Bauhütte aus? Wer waren die Arbeitskräfte? Nun, Die Bauhütte war ein ausgedehnter Ständerbau, heute oft „Fachwerkhaus“ genannt, darin Schlaf-, Speise-, Werk- und Vorratsräume. Hier lebten fast alle, die auf der Kirchenbaustelle arbeiteten. Außer ihnen durfte niemand die Bauhütte betreten. Die Bauleute waren streng hierarchisch organisiert. Sie kamen aus allen Ecken Europas zusammen, um die Baustellen zu organisieren und die Arbeiten durchzuführen und galten als Spezialisten auf ihren jeweiligen Gebieten, z.B. in der Steinmetzkunst, Bauplastik, Architektur oder Baustatik. Baupläne wurden selten aufgezeichnet. Sie waren „Geheimsache“.
An der Spitze der Bauhütte in Unna stand ein Meister. Es gab vielleicht fünf oder sechs spezielle Steinmetze, des Weiteren ein Dutzend Gesellen und Lehrlinge. Wichtig waren die „Parlierer“, Männer die über den Gesellen standen und diese anleiteten. Das Wort ist Französisch und bedeutet „Sprecher“ oder „Anführer“ eines kleinen Bautrupps. Daraus leitet sich das deutsche Wort „Polier“ ab. Damit ist bereits angedeutet: Auf der Baustelle in Unna wimmelte es nur so von französischen Fachwörtern, ja, Französisch war überhaupt recht verbreitet – es war in diesen Zeiten die Sprache der Baukunst. Kein Zufall: Alle Lehrlinge waren verpflichtet mehrere Jahre auf Wanderschaft durch Europa zu gehen, möglichst auch nach Frankreich – um an den verschiedenen Bauhütten ihr Handwerk zu erlernen. Ohne diese „Internationalität“ gab es keinen „Gesellenbrief“. Wer sich unter der Bauhütte eine Art „Zunft“ vorstellt liegt übrigens richtig. Sie ist sozusagen die Wurzel der organisierten städtischen Handwerkerschaft und des Handels, die erst später ihre Zünfte, Gilden oder Innungen bildeten. Viele ihrer Regeln sind von den Bauhütten „abgeguckt“.
Die Bruderschaft der Bauhütte besaß eine einzigartige juristische Stellung. Anders als die Bürger*innen in Unna unterstanden sie weder der weltlichen noch der kirchlichen Gerichtsbarkeit. Was bedeutete: Bei einer Straftat konnte die Stadt Unna sie nicht anklagen oder verurteilen, auch nicht die Märkischen Grafen – einzig die Meister in den fernen Haupt-Bauhütten durften das. Damit waren die Bauleute geradezu unantastbar, nur einem transnationalen Recht unterworfen. Sie blieben unter sich und waren – wie heute sonst nur Diplomaten – praktisch unangreifbar. Erst 1707 machte der deutsche Kaiser Karl VI. dieser Sonderrolle auf Druck der deutschen Fürsten ein Ende. Zu mächtig und auch zu teuer war dieser internationale „Trust“ dem Adel und der Kirche geworden. 1731 wurden die Bauhütten dann komplett verboten und aufgelöst.
So war seit 1322 ein bunter Mix von Spezialisten aus allen möglichen Ländern und Regionen am Bau der Kirche beteiligt. Nur wenige stammten aus der Gegend, die meisten eher aus Holland, Flandern, dem Rheinland oder Burgund. Sie alle waren über die Haupt-Bauhütte für Unna zusammengestellt worden. Untereinander konnten sie sich in mehreren Sprachen plus ihrem Fachvokabular bestens verständigen. Das in Unna damals übliche Niederdeutsch verstanden sie oft nur unzureichend. Je nachdem wie lange die Bauleute engagiert waren, meistens viele Jahre, mussten sie die hiesige Sprache erst erlernen. 1396 war dann der Kirchenraum vollendet – einschließlich eines in Westfalen seltenen und anspruchsvollen Umgangschors, der übrigens durch die im internationalen Handel reich gewordene Familie von Herne gestiftet wurde. Geweiht wurde der Bau unter anderem den heiligen Clemens und Dionysius – was bis zur Reformation galt. Der Bau des Turms sollte noch weitere 70 Jahre dauern. Danach wurde die Bauhütte aufgelöst und die Bauleute wanderten weiter – neuen Aufgaben in anderen Regionen und Ländern entgegen. Wenn sie in Unna bleiben wollten, um Bürger der Stadt zu werden, dann wurden sie aus der Bauhütte und der Bruderschaft ausgestoßen. Ihren erlernten Bauberufen durften sie nie wieder nachgehen.
Blicken wir heute an den Mauern der Stadtkirche empor sehen wir das Werk der ersten organisierten Arbeitsmigranten in Unna. Ihre Namen kennen wir nicht. Aber an manchen Stellen sehen wir die Steinmetzzeichen der Bauleute auf den Quadern der Kirche, seltsame eingeschnittene Winkel, Haken und Striche - die geheimnisvolle Handschrift unbekannter „Gastarbeiter“ des Mittelalters.
Nr. 12 Ehem. Synagoge, ehem. jüdische Metzgerei und Wohnplatz
Klosterstraße 45, 59423 Unna, DE
Diese Station erinnert an die jüdische Migration in Unna. Das auf den ersten Blick unscheinbare Haus, in dem heute eine Druckerei arbeitet, beherbergte die erste größere Synagoge in Unna. Sie bestand von 1849 bis zur Zwangsauflösung der jüdischen Gemeinde durch die Nazis 1938. Ursprünglich handelte es sich um die 1468 errichtete und bis 1809 genutzte Kapelle eines Augustinerinnen-Konvents. Die Kapelle diente später noch eine Weile als Kirche, bis es 1849 an die jüdische Gemeinde abgegeben wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte diese nur über kleinere, private Gebetsräume verfügt (so am Südwall und an der Hertinger Straße).
Jüdische Menschen waren von Beginn ihrer Geschichte an in Deutschland und in Westfalen Diskriminierungen und Verfolgungen ausgesetzt. Auch Unna stellt hier keine Ausnahme dar. In der Stadt Unna (wie auch andernorts) durften sie vom Mittelalter bis in die Neuzeit vielen Berufen nicht nachgehen, sie besaßen kein „Bürgerrecht“ und durften auch keinen Grundbesitz erwerben. Um überhaupt in Unna wohnen zu dürfen mussten sie z.B. im Jahr 1431 pro Haushalt 176 Schillinge „Steuer“ bezahlen – nichtjüdische Haushalte hingegen nur funf Schillinge, so wollte es der Stadtrat!
Dass Juden „anders“ sind oder besser „anders sein sollen“ wurde den Menschen im Mittelalter und der frühen Neuzeit ständig vor Augen gehalten. Quell des Ganzen war der christliche Glaube und die Kirchen, wobei sich die katholische und später die protestantische Kirche in ihrem Antisemitismus nicht wesentlich unterschieden. An Kirchportalen gab es in Stein gemeißelte, teilweise obszöne Diffamierungen. Frühe Flugblätter, die „unters Volk“ gebracht wurden, verbreiteten Schauermärchen, heute würde man sagen „Fake news“, in Wort und vor allem „in Bild“, denn die meisten Leute konnten nicht Lesen. Glaubten die Leute den absurden Geschichten und obskuren Gerüchten über „Brunnenvergiftung“ und „Ritualmord“? Vermutlich nicht alle, aber die Mehrheit wohl schon. Und so wurden Jüdinnen und Juden über Jahrhunderte Zielscheibe für Anfeindungen und Gewalttaten, wurden Opfer von Ausweisungen und Vertreibung. Dem ersten bekannten jüdischen Einwohner der Stadt Unna, einem Mann namens Tilmann, erging es vermutlich so. Er taucht im Jahr 1304 als fortgezogener Unnaer als Neubürger in Dortmund auf.
In den folgenden Zeit waren jüdische Menschen oft betroffen von Ausweisungen und erzwungener Auswanderung. Sie wurden als »Sündenböcke« verantwortlich gemacht für alles Erdenkliche. Das trifft besonders auf die Jahre nach 1350 zu, als die Pest in Deutschland wütete und auch nicht vor Unna Halt machte. Vor allem Jüdinnen und Juden wurden als deren Verursacher*innen beschuldigt und wohl auch in Unna verfolgt und von einem rasenden Mob aus Stadtbürger*innen massakriert.
Um sich gegen Gewalt und Vertreibung zu wehren versuchten jüdische Familien sich in den Schutz ihrer „Landesherren“ zu stellen. Der Adel hatte nämlich durchaus Interesse daran, dass sie vor Ort blieben, denn er profitierte vom Handel und Geldverleih – einige der wenigen erlaubten Tätigkeiten für jüdische Menschen. So konnten manche jüdische Familien sogenannte „Schutzbriefe“ ihrer Landesherren gegen erhebliche Geldsummen kaufen, die sie vor „wilden Abschiebungen“ bewahren sollten. Für Unna ist ein sehr früher Schutzbrief aus dem hohen Mittelalter (von 1336) erhalten. Dieser wurde dem „Juden Samuel“ und seiner Familie durch Graf Adolf von der Mark ausgestellt. Im Folgenden ist der etwas gekürzte Wortlaut in verständlichem Deutsch wiedergegeben:
„Graf Adolf von der Mark grüßt alle, die diesen Brief sehen und von ihm hören, mit Aufrichtigkeit. Wir geben durch diesen Brief rechtskräftig bekannt, daß wir das Ehepaar Samuel und Soeta, Juden, mit seinen Kindern und seiner Familie in unseren Schutz und unser Recht aufnehmen, entweder in unserer Stadt Unna oder sonstwo in unserem Land, wo sie selbst es für nützlich halten, von nun an während der nächsten acht Jahre, und daß wir sie in allen Rechten und Freiheiten halten und fördern wollen, welche die Juden in unserem Lande genießen, für die Ausübung dieses Rechtes und Schutzes sollen die genannten Juden für die Zeit eines einzelnen Jahres (…) sechs Schillinge uns und niemandem sonst bezahlen (…). Und wenn diese Juden sich entscheiden, von uns fortzugehen, werden wir sie mit ihrem Besitz und ihrer Familie in unserem Schutz halten. Wir übergeben dem genannten Juden dieses Zeugnis zur Sicherheit als Zeichen unseres Schutzes. Gegeben im Jahre des Herrn 1336 (…).“
Ob der Schutzbrief Samuel und seiner Familie nützte? Wir wissen es nicht. Möglich, dass Samuel hier in der Nähe, irgendwo im Bereich zwischen Bahnhofstraße, Klosterstraße und Gerhart-Hauptmann-Straße (also Königstraße) wohnte, einer Gegend in der bis ins zwanzigste Jahrhundert vermehrt jüdische Familien lebten. Ein jüdisches Ghetto, wie zum Beispiel in Frankfurt, gab es in Unna nicht. Dafür waren Stadt und jüdische Gemeinde zu klein.
Nach der Vertreibung oder Ermordung in den Pestjahren lässt sich erst im Jahre 1400 mit dem Familienoberhaupt Moyses Peperkorn wieder jüdisches Leben in Unna feststellen. Nach und nach bildete sich eine kleine jüdische Gemeinde, die aber knapp vierzig Jahre später wieder restlos vertrieben wurde. Und auch daran trugen „brave“ Unnaer Bürger*innen wohl ihren Hauptanteil. Es sollte nun über 130 Jahre dauern, bis wieder jüdische Familien nach Unna zogen. Ein Mann namens Nathan war wohl einer der ersten im Jahr 1564. Auch wenn in der Folgezeit Diskriminierungen alltäglich gewesen sein dürften, entwickelte sich das jüdische Leben in Unna. Immer wieder zogen neue Familien nach Unna – teils gegen den ausdrücklichen Willen des Stadtrats – aber mit Billigung der Märkischen Grafen. Wegen des Verbots anderer Berufe waren sie vorwiegend mit Handel, Viehschlachtung oder in der Glasmacherei beschäftigt. In der Zeit der preußischen Herrschaft und nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 bekamen die Unnaer Jüdinnen und Juden nun auch das volle „Bürgerrecht“ zugesprochen – eine Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung auf Frieden, Heimat und Gleichberechtigung.
Eine trügerische Hoffnung, die kaum ein Menschalter halten sollte und durch den Rassismus und den deutschen Faschismus beendet wurde. Einige jüdische Familien ahnten bereits in der Zeit der sogenannten „Machtergreifung“ der Nazis 1933, was geschehen könnte. Der junge Schuhmacher Eugen Löhnberg zum Beispiel wanderte unter dem Eindruck der antijüdischen Stimmung als einer der ersten Unnaer nach Israel aus. Andere, wie der beliebte Arzt Dr. Mond oder der Prediger Erich Jacobs zogen in andere Städte, nachdem sie auch von vielen Nachbarn „fallengelassen“ oder angefeindet wurden. Am 9. November 1938, der Reichspogromnacht, wurden die jüdischen Geschäfte in Unna, viele in der nahen Bahnhofstraße, verwüstet. Jüdische Geschäftsleute wurden bedroht, Scheiben eingeschlagen, die Einrichtung zerstört, Auslagen geplündert. Die Synagoge, vor der sie hier stehen, wurde demoliert und angezündet. Die Unnaer Feuerwehr löschte die Flammen erst, als diese auf benachbarte Häuser überzuspringen drohte.
Wer von den Unnaer Jüdinnen und Juden jetzt nicht floh hatte nur noch wenig Zeit. Bald war ihnen die Ausreise verwehrt, sie standen unter Ausgangssperre, müssten den gelben Stern an der Kleidung tragen, die Zwangsnamen „Sarah“ oder „Israel“ annehmen und Zwangsarbeit leisten. So auch Siegmund Elkan, der unweit am Marktplatz ein beliebtes Textilgeschäft besaß. Dieses wurde ihm enteignet – stattdessen musste er nun, vor aller Augen gedemütigt, die Straße kehren. Etliche jüdische Bürger*innen hatten nun auch ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen. Sie wurden innerstädtisch in das israelitische Altersheim an der Mühlenstraße zwangsverlegt. Im April 1942 begannen nun die Deportationen der jüdischen Menschen aus Unna. Die letzten 142 Jüdinnen und Juden waren bis 1943 in Konzentrationslager und Ghettos gebracht worden. Fast alle wurden ermordet.
Nr. 13 Der Westfälische Hellweg
Gerhart-Hauptmann-Straße 29, 59423 Unna, DE
Diese Station an der Ecke Gerhart-Hauptmann-Straße und Klosterstraße erzählt eine Geschichte, die mit den ersten „Fremden“ in der Stadt Unna zu tun hat. Die Geschichte geht weit in die Vergangenheit zurück.
Früher hatte die Gerhart-Hauptmann-Straße einen ganz anderen Namen: Schon seit 1525 ist sie als „Königsstraße“ überliefert. Weil hier ein König wohnte oder ein Gut besaß? Keineswegs. Da dieser Name sehr alt ist und ins Mittelalter zurückführt, bezeichnet sie – auf Latein – eine „via regis“, also eine Straße, auf dem Könige unterwegs waren. Und die einzige „via regis“ in Westfalen ist: der Hellweg! Übrigens haben nicht alle Königsstraßen in dieser Gegend diesen historischen Hintergrund. Die meisten Straßen haben diese Namen erst im 19. Jahrhundert bekommen – als Huldigung an den preußischen König, der sich Westfalen nach der „Franzosenzeit“ in seinen Herrschaftsbereich einverleibte.
Unna liegt am einer kurzen Abzweigung des Westfälischen Hellwegs, eines alten, vielleicht schon in vorgeschichtliche Zeit zu datierender Fernstraße. Diese verband den von den Römern angelegten Rheinhafen, die Militärläger und Siedlungen bei Duisburg mit einem Weserübergang bei Höxter-Corvey. Dort fächert der Hellweg in weitere Straßen Richtung Osten aus. Der Weg führt südlich der Lippe und nördlich der Höhenzüge von Ardey und Haarstrang entlang. Er war daher nicht zu sumpfig und nicht zu steinig und zu steil – also gut zu Fuß oder mit einfachen Karren zu bewältigen. Die moderne Bundestraße 1 (B1) liegt in vielen Teilen direkt auf der alten Straße. An Stellen, die nicht durch die spätere preußische Chaussee und die B1 gestört wurden, können noch heute Abschnitte des breiten Hohlweges oder an wichtigen früheren Wegekreuzung sogar Reste von Pflasterung ausgemacht werden.
Möglicherweise nutzten schon die Römischen Legionen den Hellweg als Militärstraße. Auf jeden Fall marschierten hier die fränkischen Heere vor mehr als 1.200 Jahren. Das fränkische Volk wie das sächsische gehörte zwar zu den German*innen, allerdings waren diese heutigen ethnischen Vereinfachungen und Zugehörigkeiten den sächsischen Siedler*innen, die in wenigen Gehöften in und um Unna wohnten ziemlich gleichgültig. Für sie waren die fränkischen Soldaten Eroberer, angsteinflößende Fremde. Sie kleideten sich ganz anders, sprachen eine unverständliche Sprache und vor allem: Sie glaubten an einen eigenartigen Gott – einen dünnen Mann, der tot an einem Kreuz hing und Jesus hieß – während sie doch schon immer starke und würdevolle Götter wie Wodan, Donar oder Freya verehrten.
Heere unter Karl dem Großen zogen über den Hellweg in und durch das Sachsengebiet und eroberten es. Ihnen folgten erneut seltsame Menschen, die gleich mehrere unverständliche Sprachen sprachen: christliche Missionare. In Unna bauten sie wohl ein kleine Holzkirche, ließen sich mit einigen anderen Siedler*innen nieder. Um sie zum Christentum zu bekehren? Ja, auch das. Aber die Menschen hier hatten attraktive Fertigkeiten – und auch Produkte: Salz zum Beispiel! Auch manche Einheimische siedelten nun an diesem Ort. So entstand ein ganz kleines Städtchen am Hellweg.
Der Hellweg hatte spätesten jetzt in der Zeit des Mittelalter zwei wichtige Funktionen: Erstens war er nun eine Verbindungsstraße zwischen zwei der wichtigsten königlichen Pfalzen: Nämlich Aachen im Westen und Paderborn im Osten. Die Könige reisten mit ihrem Gefolge und Heeren über den Hellweg zu diesen Pfalzstädten, daher auch „via regis“. So etwas wie eine Hauptstadt gab es damals nicht und so nannte man die Könige auch „Reisekönige“. Zuletzt war es König Karl IV., der 1377 auf dem Ostenhellweg in Dortmund einzog, geleitet von 200 Reitern, die ihm bis Unna, wo er Station machte, auf dem Hellweg entgegengeritten waren.
Zweitens konnten nun die großen und kleinen Städte am Hellweg zu Stationen eines reichen überregionalen Handels werden. Händerl*innen zogen nun durch die Stadt und machten Halt. Es wurde das in hiesigen Salinen erzeugte Salz gehandelt, aber auch Stoffe aus Flandern, Bernstein aus dem Baltikum und zum Beispiel Zinn. Damals ein ungemein teures Metall, denn es wurde zur Herstellung der wichtigen Bronze benötigt. Händler*innen zeigten die neueste Kleidermoden aus fernen Ländern, brachten Produkte mit, die bislang unbekannt waren. Fremde repräsentierten nun die spannenden Dinge und Ideen der weiten Welt. Ihre Geschichten, wenn man sie verstand, waren aufregend. Und aufregend war besonders der Profit, wenn man mit ihnen ins Handeln kam. Gute Geschäfte können feste Brücken bauen! Auch die Bürger*innen von Unna profitierten vom „kleinen“ Handel mit den Nachbarstädten wie Dortmund, Werl und Soest. Auf dem immer besser ausgebauten Hellweg brauchen die Menschen statt früher einen ganzen Tag nun nur noch sechs oder acht Stunden „Reisezeit“. So rückt die Welt näher zusammen. In der Zeit der Hanse ungemein wichtig.
Aber auch Pilger*innen nutzten den Hellweg. So manche übernachteten in einer Herberge in Unna und beteten in der Stadtkirche, um dann weiterzuziehen. Vielleicht nach Werl im Osten zum Marienbildnis (seit 1661) oder Richtung Westen nach Köln zum Dreikönigsschrein. Und hin und wieder waren auch Pilger*innen darunter, die eigenartige Muscheln umgehängt hatten und von einem fernen Santiago in Spanien sprachen oder sogar von Rom oder vom Heilgen Land.
Wir sehen an dieser Statioen sehr deutlich: Ohne Fremde Menschen gäbe es Unna gar nicht. Als Eroberer, als Händler*innen, Pilger*innen oder einfach als Reisende haben sie diese Stadt erst zu einer Stadt gemacht.
Übrigens: Warum der Hellweg eben „Hellweg“ heißt ist bis heute umstritten. Es gibt einige Deutungsversuche. Zum einen könnte das „Hell“ mit dem Wort „Hall“ zu tun haben, was modern mit „Salz“ übersetzt wird, das hier gewonnen und transportiert wurde. Möglich auch, das tatsächlich „hell“ gemeint ist im gegesatz zu „dunkel“. Der Hellweg war also ein breiter, gut ausgebauter, eben „heller“ Weg – im Gegensatz zu den sonst eher üblichen, schmalen und „dunklen“ Waldwegen. Auch Erklärungsversuche, den Weg mit der Altgermanischen Totengöttin „Hel“ in Verbindung bringen gibt es. Was wirklich stimmt mag – das bleibt verborgen im Dunkel der Geschichte.
Nr. 14 Erste "Fremde" in Unna
Uelzener Weg 46, 59425 Unna, DE
Erste »Fremde« in Unna
Wann gab es eigentlich die ersten »Fremden« in Unna? Dazu müssten wir uns zuerst die Frage stellen: »Seit wann gab es denn überhaupt Einheimische«? Und mehr noch: »Waren die ersten Menschen, die sich in Unna angesiedelt haben eigentlich nicht auch Fremde?
Wann die ersten modernen Menschen durch in und um Unna lebten wissen wir nicht genau. In Hemmerde und Lünern beispielsweise hat man Beile, Pfeilspitzen und Teile von Geräten gefunden. Es handelt sich dabei um Steinwerkzeuge, die die Menschen vor einigen Tausend Jahren weggeworfen oder verloren haben. Diese Menschen lebten vorwiegend als Nomad*innen. Sie zogen als Jäger*innen den Wildtierherden hinterher, stellten Tierfallen auf, sammelten Kräuter und Wurzeln. Manchmal blieben sie für eine Weile und legten kleine Felder und Gärten an, bis der Boden nicht mehr fruchtbar genug war oder sich bessere Jagdgründe anboten. Von wo sie kamen, wohin sie gingen? Wir wissen es nicht.
Diese Station jedoch markiert die Stelle, an der sich nach den vorläufigen Erkenntnissen, die ersten Menschen in Unna längerfristig ansiedelten. Woher wir das wissen? Weil hier Überreste von festen Gebäuden gefunden wurden. So etwas lässt sich für die Jahrhunderte und Jahrtausende zuvor für Unna nicht nachweisen.
Etwa zweihundert Meter von hier nach Südosten, mit Blickrichtung zur Bundesstraße 1, fanden 2015 Archäolog*innen Keramikscherben, Gruben in denen Menschen ihren Abfall entsorgten und die Überreste von Häusern aus der Zeit vor etwa 2000 Jahren. Darunter war mindestens ein sogenanntes Grubenhaus. Dabei handelt es sich um Häuser, deren Fußboden einen halben Meter oder mehr in den Boden eingegraben gegraben war (also eine Grube) und aus festgestampften Lehm bestand. Große Holzpfosten mit Seitenwänden aus Fachwerk und ein Holzdach bildeten den Oberbau dieser vielleicht 30 Quadratmeter großen Hütte. Vielleicht wohnte auf diesem Gehöft eine Familie oder eine Großfamilie. Sie waren hierhin gezogen, die Gegend war ihnen fremd, auch die weit entfernt lebenden Nachbarn warnen neu für sie. Aber der Ackerbau und etwas Viehzucht waren erfolgreich, in der Nähe verlief der Hellweg und sie konnten vielleicht Reisegäste übernachten lassen oder etwas Handel treiben. Jedenfalls blieben sie hier. Sie wurden sesshaft. Für Jahre oder Jahrzehnte.
Welche Namen sie trugen, welche Sprache sie sprachen, welche Götter und Göttinnen sie anbeteten…? Wir wissen es nicht. Wahrscheinlich aber gehörten sie den Ruhr-Weser-Germanen an. Vielleicht dem Stamm oder dem Volk der Brukterer, oder der Ethnie der Marser. Die Römer jedenfalls gaben ihnen diese Namen. Womit wir bei den nächsten Fremden wären, die unserer auf dem Boden von Unna erst fremden und dann heimisch gewordenen Familie begegnet sein könnten. Etwa zu jener Zeit, als dieses Gehöft entstand, gab es erst in Bergkamen-Oberaden und dann in Haltern römische Legionslager. Direkt an der Lippe. Stellen wir uns also vor, dass unsere Familie aus Unna einen Ausflug macht zu diesen Römern, um das interessante, ungewohnte und vielleicht beängstigende Fremde zu bestaunen. Stellen wir uns vor, dass sie in der kleinen Siedlung vor dem Soldatenlager etwas ganz neues kennen lernen: Menschen die Latein sprechen, große Pferde, Soldaten in Rüstungen… und dass sie Speisen probierten, die sie noch nie gesehen hatten und die uns heute selbstverständlich erscheinen: Wein, Olivenöl und weißes Brot…
Lassen Sie Ihren Gedanken und Phantasien freien Lauf…
Nr. 17 Stadtmauer und Stadttor
Gürtelstraße 11, 59423 Unna, DE
Die Stadtmauern schützten einst die Bewohner*innen von Unna. Vor Kriegsvolk und feindlichen Heeren? Ja, gewiss auch das. Aber das war eigentlich ihre Aufgabe nur bis ins hohe Mittelalter. Die erste mittelalterliche Stadtmauer erfüllte noch diese Aufgabe. Sie lag übrigens nicht an dieser Stelle, sondern bildete einen Ring weiter innen gelegen. Mit dem Aufkommen der Feuerwaffen, vor allem den Kanonen, büßten einfache Stadtmauern ohne zusätzliche Bollwerke und Schanzen (wie z.B. in Münster) ihre militärische Funktion ein. Unna war eine kleine Stadt, sie hatte solche neuartige Wehranlagen nicht.
Die Stadtmauer, deren Reste sie an dieser Station sehen, ist die weite, jüngere Mauer, errichtet zwischen dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit. Sie war bis ins 18. Jahrhundert „in Betrieb“. Die an dieser Stelle neu aufgemauerte „Pforte“ erinnert symbolisch an ein Stadttor. Die größeren, „echten“ Stadttore lagen einst aber an anderen Stellen in der Nähe: So an der Ausmündung der heutigen Massener Straße das „Massinger Thor“ und etwas weiter das „Herthinger Thor“. Diese Tore und zwei weitere wurden vor rund zweihundert Jahren komplett abgerissen. Sie erfüllten keinen Zweck mehr zu dieser Zeit.
Die Aufgabe dieser Stadtmauer, die auch im Stadtwappen mit den Farben der Märkischen Grafen abgebildet ist, war weniger eine militärische, sondern eine ganz andere. Sie markierte eine Grenze, die einfache Leute nicht überwinden konnten. Sie unterschieden zwischen einheimischen Bürger*innen in der sicheren Stadt und den „gefährlichen Fremden draußen vor dem Tor“. Das Tor signalisierte ganz pauschal: Wer hier hindurchgeht muss sich an die Gesetze, Regeln und Sitten, an Steuern und Abgaben der Stadt Unna halten – aufgestellt durch die Bürger*innenschaft. Wer dies vermutlich nicht tun wird, darf die Tore gar nicht erst passieren. Und wer gegen die Normen der Stadt verstößt… dieser Mensch fliegt raus!
Die Stadttore von Unna wurden rund um die Uhr von bewaffnete Stadtangestellte (ähnlich der heutigen Polizei) bewacht. Diese entschieden wer in die Stadt hineindurfte. Bürger*innen der Stadt und Angehörige des Märkischen Adels konnten ohne Weiteres passieren. Für alle anderen galt: Halt – und nicht weiter! Fremde brauchten nämlich einen Grund, hineingelassen zu werden. Bauern und Bäuerinnen aus der Umgebung sowie Händler*innen waren willkommen. Zumal an Markttagen. Sie hatten jedoch die Stadt bis „Toresschluss“ (daher auch das Sprichwort) zu Beginn der Dunkelheit wieder zu verlassen. Fernhändler*innen, vor allem, wenn sie der Hanse angehörten, konnten länger bleiben. Sie übernachteten in Gasthäusern oder bei Handelskolleg*innen. Verwandtenbesuche waren auch möglich. Die Unnaer Verwandtschaft musste dann aber die volle finanzielle Verantwortung für ihre Gäste übernehmen.
Abgewiesen wurden an den Toren viele Menschen: Stellungslose Knechte und Mägde, arbeitslose Handwerker*innen ohne festen Wohnsitz beispielsweise hatten schlechte Karten. Sie standen im Verdacht, sie könnten sich unerlaubt in Unna niederlassen. Angst vor Konkurrenz eben. Vor allem offensichtlich Kranke und Verkrüppelte sowie Arme und Bettler*innen wurden abgewiesen. Und das waren nicht wenige. In der frühen Neuzeit gehörte rund ein Viertel der Bevölkerung dazu. Zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges fast die Hälfte. Gleichwohl gehörte Betteln in Unna zum Alltag und war auch erlaubt – aber ausschließlich für die einheimischen Armen. Diese hatten tatsächlich eine „Lizenz zum Betteln“! Also auch hier: Konkurrenzangst – selbst bei Angehörigen schwächsten sozialen Schicht. Übrigens wohnten die meisten Bettler*innen der Stadt nicht weit von dieser Station entfernt in der heutigen Schulstraße. Diese hieß bis vor etwa hundert Jahren tatsächlich noch „Armenstraße“, bis der Name aus Pietätsgründen getilgt wurde. Zwar gab es keine Armen- und Waisenhäuser hier mehr, aber auf den stadtkleinsten Parzellen wohnten tatsächlich immer noch die ärmsten Bürger*innen in winzigen und teils baufälligen Holzhäusern, den sprichwörtlichen „Bruchbuden“.
Die Torwachen hatten meisten keine Schwierigkeiten Einheimische von Fremden zu unterscheiden: Sie kannten die meisten Stadtbürger*innen persönlich. Das war auch kein Kunststück, denn Unna hatte vom hohen Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nur zwischen 1.000 und 2.500 Einwohner. Im heutigen Verständnis war Unna also ein Dorf. Für die Unnaer*innen waren alle die nicht aus der Stadt oder nächsten dörflichen Umgebung kamen Fremde, im heutigen Sinne Ausländer*innen. Kaufleute, Wandergesellen, politische Gesandtschaften, Adlige und Kleriker führten oft Empfehlungs- oder Begleitschreiben oder auch Schutzbriefe mit sich. Mit diesen handgeschriebenen und gesiegelten Dokumenten konnten sie ihre Identitäten und Absichten nachweisen – und die Stadttore passieren. So etwas wie Ausweise oder Pässe, mit denen man eine Grenze „passieren“ konnte (daher stammt auch das Wort), gab es nicht. Diese wurden erst mit der Entwicklung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert „erfunden“.
Mit Eroberung Napoleons und der „Franzosenzeit“ und seit 1815 durch die Übernahme Westfalens durch die Preußen endete die Selbstständigkeit Unnas und der Grafen von der Mark. Unna und alle Städte der Umgebung verloren den größten Teil ihrer Freiheiten. Es galten nun allerorts die Gesetze und Regeln des preußischen Königsreichs, des ersten echten Flächenstaates in diese Region. Die Menschen in Unna waren nun keine „autonomen“ Unnaer*innen mehr, eine Märkische Grafschaft gab es auch nicht mehr. Und Ausländer*innen aus Dortmund, Essen, Münster oder Düsseldorf gab es auch keine mehr. Aus diesen einst Fremden wurde nun Nachbar*innen. Alle waren nunmehr preußische Staatsbürger*innen.
Die Stadttore verloren nun ihren Sinn und wurden abgebaut. Die Mauern standen noch um 1860, bis auch sie im Zuge der Stadterweiterungen bis auf wenige Reste überbaut oder abgerissen wurden.
Nr. 20 Marktplatz
Markt 1, 59423 Unna, DE
Der Marktplatz im Stadtzentrum (Stichwort: Hanse)
Auf dem Marktplatz von Unna findet heutzutage dienstags und freitags Wochenmarkt statt. Ein Einkauf unter sonnigem Himmel von Obst, Gemüse und anderen Lebensmitteln, darunter viel Bio-Ware lokaler und regionaler Händler*innen, ist eine willkommene Abwechslung vom Alltags-Einkauf in Supermärkten und Shopping Malls – vom Online-Handel ganz zu schweigen. Ein Getränk und ein Schwätzchen in einem der Cafés am Markt sorgen im Anschluss für Entspannung.
Bis vor etwa 200 Jahren sah ein solcher Markttag ganz anders aus. Es ging war lebendiger und lauter zu als heute, denn hunderte von Menschen zogen durch die Stadt, zu Fuß oder mit Lasttieren und Fuhrwerken, um heranzuschaffen, was es zu verkaufen galt. Hier versorgten sich die Unnaer*innen mit den Dingen des Alltags und des gehobenen Lebensstils. Hier wurden Waren aus der Provinz feilgeboten und selbstverständlich auch anspruchsvollere Güter bis hin zu Luxusartikeln, die aus „dem Ausland“ kamen: Butter aus Holland, Stoffe aus Flandern und England, Pelze aus Russland, Wachs und Bernstein aus dem Baltikum, Wein vom Rhein oder aus Frankreich sowie Gewürze und anderes aus Ländern jenseits Europas.
Verantwortlich für das üppige Marktangebot von Waren aus so vielen entlegenen Ländern, von den die meisten Unnaer*innen kaum jemals gehört hatten, waren die Fernhändler*innen. Diese waren wohl schon im 14. Jahrhundert in der Hanse engagiert. Unna trat als Stadt erst etwa 1469 bei. Die Hanse war ein Nordeuropa umspannendes Handelsnetzwerk – von der englischen Kanalküste bis zum Ostseeraum im Baltikum. Zunächst waren es einzelne Kaufleute und ihre Familien, die sich zusammentaten, um gemeinsam die Risiken und die Profite im internationalen Handel zu teilen. Später traten ganze Städte zunächst vor allem an den Küsten der Hanse bei. Mit ihren Häfen förderten sie den Seehandel und mit bewaffneten Schiffsflotten schützten sie die Seewege vor Piraten. Der berühmt-berüchtigte Klaus Störtebeker war ein solcher Pirat, der Handelsschiffe plünderte und schließlich von bewaffneten Hanseschiffen vor Helgoland gefangen genommen wurde, um in der Hansestadt Hamburg anschließend hingerichtet zu werden.
Die Hanse verband Unna mit der Welt jenseits des westfälischen Tellerrandes. Die Unnaer Kaufleute exportierten die gefragten Waren aus der Gegend. Vor allem das Salz aus den Salinen von Königsborn war ein Handelsschlager. Aber auch Bier aus den örtlichen Brauereien spielte eine große Rolle – in Antwerpen zum Beispiel war „Onnaes Bier“ (also Unnaer Bier) bekannt und beliebt.
So wie die Unnaer Handelsleute in die nördliche Hanseregion reisten, um Geschäfte abzuschließen, so kamen auch Fernhändler*innen aus Holland, England, Schweden oder aus dem russischen Nowgorod nach Westfalen und auch nach Unna, um vor Ort Zeit-, Personal- und Finanzierungspläne aufzustellen und selbstverständlich auch um zu bezahlen oder zu kassieren. Auch wenn es in Unna keinen großen Handelskontor (eine Mischung aus Warenlager und Bürokomplex) gab, so waren die die kleinen „Handelshöfe“ der Unnaer Hansekaufleute in den Straßen rund um den Markt dennoch sehr ansehnlich. Dort residierten zum Beispiel die Familien Von Herne oder Von Büren, die auch im Rat der Stadt lange Zeit den Ton angaben. Sie waren das Ziel der fremden Kaufleute.
Wie können wir uns beispielsweise einen solchen Hansekaufmann aus dem Baltikum vorstellen? Nun, das Auffälligste an ihm: Er war vornehm gekleidet. Er trug ein farbenfrohes Wams und feinste Beinkleider aus seltenen und teuren Stoffen geschneidert (sprichwörtlich „gut betucht“) sowie eine aufwändig gestaltet Mütze. Bei Kälte kam ein Mantel aus Zobelfell hinzu, der so viel kostete wie heutzutage ein Kleinwagen. Seine Füße steckten in makellosen Schuhen aus bestem gefärbtem Leder (er hatte sprichwörtlich „Geld an den Füßen“). Die Finger waren geziert mit dem einen oder anderen Ring aus Gold und wahrscheinlich roch er nach irgendeinem Parfum (er war also sprichwörtlich „stinkreich“).
Dieser „Ausländer“, der eine slawische Sprache benutzte, mag für die meisten Leute in Unna ein wenig Angst einflößend gewesen sein, gleichzeitig aber auch ein Vorbild, ja, ein Idol – er war gebildet, hatte gute Manieren und er war unvorstellbar reich – reicher auch als die märkischen Grafen. Diese waren nämlich bei der Hansestadt Unna hochverschuldet. Wie gebildet der Mann war, konnten die Leute erfahren, wenn diese ihn ansprachen. Denn der Fernhändler konnte nicht nur in seiner Sprache antworten, sondern auch auf Englisch, Schwedisch und – geradezu ungeheuerlich – sich auch auf Niederdeutsch gut verständlich machen, also jener Sprache, die damals in Unna gesprochen wurde. Und zwar aus einem einfachen Grund: Niederdeutsch war die Handels- und Verkehrssprache der Hanse. Eine gemeinsame Sprache war also – anders als heute gedacht – nicht unbedingt eine Frage der Nationalität oder Volkszugehörigkeit, vielmehr eine Sache der sozialen Rolle.
Ein Zufallsfund im Jahre 1953 macht uns heute deutlich, wie reich die Unnaer Hansekaufleute und ihre „ausländischen“ Handelspartner waren. In diesem Jahr fand sich bei Bauarbeiten auf einem Grundstück an der Massener Straße – etwa 100 Meter vom Marktplatz entfernt - ein gewaltiger Goldschatz. Verborgen in einem Kellerfußboden kamen hunderte Goldmünzen aus dem 14. Jahrhundert ans Tageslicht: Einer der wertvollsten mittelalterlichen Schatzfunde in Europa überhaupt. Vermutlich hatte ihn ein Fernhändler dort deponiert. Das lässt sich daraus schließen, dass die Mehrzahl der Münzen nicht in Westfalen oder Deutschland, sondern in Frankreich und Flandern geprägt wurde. Wahrscheinlich gehörte die Frau oder eher der Mann zur Kaufmannsfamilie derer von Herne und war unerwartet auf eine Handelsreise verstorben – ohne seiner Sippe verraten zu haben, wo er die Barschaften zu verstecken pflegte. Nach heutigem Wert war dies ein Millionenvermögen und übertraf selbst die Einnahmen aller adligen Grundbesitzer der Gegend.
Zurück noch einmal zum Unnaer Marktplatz. Hier standen bis in die Neuzeit hinein die für Politik und Handel wichtigsten Gebäude. Am Südende befand sich das Rathaus, das bis 1833 in Funktion blieb, im Norden (zur Ecke Bahnhofstraße) lag das Gildenhaus, links daneben das Stadtweinhaus. Im Gildenhaus tagten die Zünfte aus dem Handwerk und berieten über Aufträge, Preise und vieles mehr. Im Stadtweinhaus lagerten die Weinvorräte der Stadt, die an die Bürger*innen verkauft wurden. Die Obersten der Stadt Unna kauften und verkauften zentral über die Hansekaufleute ein. Wein war zu dieser Zeit sehr wichtig. Er wurde zwar nicht in der Gegend produziert, wurde aber bis ins 16. Jahrhundert in Westfalen häufiger konsumiert als Bier. Keines von diesen Gebäuden existiert heute mehr. Und mit dem Handel nach der Blütezeit Unnas im 16. Jahrhundert ging es deutlich bergab.
Die Hanse verlor ihre Bedeutung. Mit den eher rustikalen Hansewaren ließ sich nur noch wenig verdienen. „Big Money“ wurde jetzt mit Waren aus Asien, Afrika oder der „Neuen Welt“ gemacht: Mit Tee, Kaffee, Kakao, Seide, Tabak, Reis, Zuckerrohr und auch mit Sklav*innen. Alles gestützt und geschützt durch die frühen Nationalstaaten England, Spanien, Portugal oder die Niederlande und finanziert durch Banken in London, Amsterdam oder Lissabon. Die genossenschaftlich orientierte Hanse konnte mit diesen neuen Verbindungen aus Macht und Kapital nicht mehr konkurrieren. Der letzte Hanse-Tag in Lübeck 1669 geriet zu einer bedeutungslosen Veranstaltung der letzten verbliebenden Mitglieder aus einigen deutschen Küstenstädte. Unna war zu diesem Zeitpunkt längst aus der Hanse ausgeschieden. Die einst so eleganten fremden Händler*innen blieben der Stadt fern.
Nr. 24 Zwangsarbeiter*innen - Stellvertretender Ort für Industriebetriebe in Unn
Hellweg 31-33, 59423 Unna, DE
Zwangsarbeit im Nationalsozialismus
Der zweite Beitrag an dieser Station widmet sich der Zwangsarbeit im deutschen Faschismus über die Grenzen Unnas hinaus. Dies mag an dieser Stelle wichtig sein, um sich die Dimension eines der schlimmsten Kapitel von kalkulierter Zwangsmigration der Menschheitsgeschichte, von millionenfacher Ausbeutung, von Leid und Tod, besser vorstellen zu können.
Zwischen 1939 und 1945 kamen viele Millionen Menschen mit ausländischer Herkunft in das faschistische Deutschland. Die Eroberungen der Wehrmacht waren auch eine „Eroberung“ von Menschen, Zivilist*innen und Kriegsgefangene, die aus den besetzten Ländern und Regionen ins Reichsgebiet deportiert wurden. Insgesamt waren es in diesem Kriegszeitraum etwa 14 Millionen! Zum „Stichtag“ 31. August 1944 waren es allein knapp 8 Millionen registrierte Kriegs- und KZ-Gefangene ausländischer Herkunft sowie zivile Sklavenarbeiter*innen. Die deutliche Diskrepanz der Gesamtzahlen im Krieg mit diesem Stichtag erklärt sich auf grausame Weise. Wurden die nicht mehr arbeitsfähigen Zwangsarbeiter*innen in ihre Heimatländer zurückgeschickt? Ja, das kam schon vor. Bei zivilen Kräften aus einigen westeuropäischen Staaten zum Beispiel gab es einen gewissen „Austausch“. Aber der Grund ist ein anderer: Vor allem die in den Reichsgrenzen befindlichen rund 2 Millionen sowjetische Kriegsgefangenen sowie die KZ-Gefangenen mussten sich im Sinne des Wortes „zu Tode arbeiten“. Sie bekamen nur unzureichend zu Essen und praktisch keine medizinische Versorgung. Sie verhungerten oder starben vorzeitig an Krankheiten, gegen die ihre ausgezehrten Körper nichts mehr entgegenzusetzen hatten – „Vernichtung durch Arbeit“ hieß das im Nazi-Jargon.
Der Anteil der zur Zwangsarbeit gepressten Menschen machte bis zu 30 Prozent der gesamten Arbeitsbevölkerung in Deutschland aus. In der Landwirtschaft war der Anteil sogar noch höher (hier waren etwa die Hälfte Mädchen und Frauen) als in der Industrie. Seit der Abschaffung der Sklaverei im 19. Jahrhundert hatte es so etwas nicht mehr gegeben und dies bleibt bis heute weltweit einzigartig. Ohne diese Zwangsarbeit wären die Landwirtschafts- und Industrieproduktion und damit auch die gesamte Kriegswirtschaft der Nazis völlig zusammengebrochen. Sie ersetzten die Millionen gefallenen oder an der Front befindlichen deutschen Soldaten an ihren früheren Arbeitsplätzen und im weiteren Kriegsverlauf auch die die durch den Bombenkrieg getötete oder nicht mehr arbeitsfähige deutsche Zivilbevölkerung. Ein grausames Kalkül der NS-Politik.
An dieser Stelle muss jedoch das Kapitel der Zwangsarbeit noch einmal deutlich erweitert werden. Bislang ging es nämlich um die Deportation von Menschen ins das ehemalige deutsche Reichsgebiet. Die gesamte Zahl durch Zwangsarbeit entwurzelter Menschen ist aber weitaus höher! Es geht um weitere Millionen Menschen, die unter der Naziherrschaft von einem Land in ein anderes geschafft oder innerhalb ihres Heimatlandes verschleppt wurden. Allein über 22 Millionen gefangener Sowjets wurden innerhalb der eroberten Gebiete zur Zwangsarbeit deportiert und oder nach Polen, Rumänien oder ins Baltikum verschafft. Die meisten von ihnen überlebten die Torturen der Zwangsarbeit nicht.
Insgesamt war Nazideutschland verantwortlich für mindesten 45 Millionen Menschen, die für die Zwecke der Zwangsarbeit umgesiedelt oder deportiert wurden.
Mit der Befreiung von der Nazidiktatur im Mai 1945 hatte die Zwangsarbeit ein Ende. Das Leid der befreiten Überlebenden allerdings nicht. Viele blieben lebenslang traumatisiert und auch körperlich gezeichnet. Und mehr noch: Viele ehemaliger Zwangsarbeiter*innen hatten keine Heimat mehr. Ihre Städte waren zerstört, Länder verwüstet, die Familie umgekommen. Und etliche hatten keine Dokumente mehr, die ihre Staatszugehörigkeit hätte klären können. In die nun von den Sowjets kontrollierten Staaten wollten viele Zwangsarbeiter*innen auch oft nicht zurück. Zehntausende lebten für Monate und manchmal Jahre als „DP’s“ (Displaces Persons) eher widerwillig versorgt von den ehemaligen Siegermächten in den gleichen Lagern, in denen sie zuvor durch die Nazis eingesperrt worden waren. Um dieser Kasernierung zu umgehen zogen manche von Staat zu Staat durch Europa auf der Suche nach einem neuen Heim, nach Arbeit und Frieden. Besonders den überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen traf ein furchtbares Schicksal. Nach dem Jalta-Abkommen mussten diese wieder an die Sowjetunion übergeben werden – und dort wurden die meisten als »Kollaborateure« diskriminiert. Stalin deportierte sie ein weiteres Mal, nun in sibirische Lager, um sie durch erneute Zwangsarbeit eine vermeintliche „Schuld“ abarbeiten zu lassen. Die Mehrheit überlebte diese Tortur nicht.
Dieses Kapitel der Zwangsarbeit bis 1945 ist in Deutschland ist erst spät „aufgearbeitet“ worden. Vor allem Ehrenamtliche, Schulen, teilweise auch die Kirchen engagierten sich hier ab den 1980er Jahren und forschten nach, was vor Ort in den Kommunen und Unternehmen in der NS-Zeit geschah. In nicht wenigen Fällen gegen den Widerstand von Vertreter*innen der Lokalpolitik und von Wirtschaftsunternehmen. Der Grund liegt eigentlich auf der Hand: Niemand wollte Verantwortung übernehmen und seine eigene Schuld bekommen – stattdessen verwies man darauf, dass die Nazis dies ja alles „befohlen“ hätten und sie selbst ja in Wirklichkeit eher Nazigegner gewesen seien und Zwangsarbeiter*innen geholfen hätten. Nun, dies stimmt gelegentlich – in der Regel aber eben nicht. Vielmehr waren es in vielen Fällen die Industriebetriebe selbst, die Zwangsarbeiter*innen bei den Nazi-Behörden oder SS direkt anforderten. Und zwar oft mehr, als ihnen zustand. Betriebe bereicherten sich an der Zwangsarbeit. In großem Maßstab! Sie selbst waren verantwortlich für die unmenschlichen Lebensbedingungen in der Zwangsarbeit, für zu geringe Essensrationen, unterschlagene „Löhne“, rigide Strafen und vieles mehr.
Gab es nie eine Wiedergutmachung gegenüber den Opfern der Zwangsarbeit? Um es klar zu sagen: Seitens der Bundesrepublik durchaus – seitens der deutschen Wirtschaft: wenig bis kaum. Und wenn, dann gab es dazu einen besonderen Anlass. Und dieser hatte wenig mit freiwilliger Wiedergutmachung zu tun. Vielmehr hatten die Alliierten angeordnet, dass deutsche Handels- und Industrieunternehmen als ehemalige „Verbündete Hitlers“ keinen oder nur einen eingeschränkten Zugang auf dem Weltmarkt haben dürften. Um dieses Verbot aufzuheben verhandelten einige Unternehmen mehr oder weniger geheim mit den USA und ausgewählten Opfervertreter*innen vergleichsweise lächerlichen Summen aus, mit denen sie sich dann „freikauften“. So konnten sie mit Milliardengeschäften als Global Player wieder „mitspielen“. Personen und Firmennamen, die auch für Unna hier eine Rolle gespielt haben, müssen aus rechtlichen Gründen hier entfallen.
Nr. 29 Ostdeutsche Heimatstuben, Ausstellung/Treffpunkt
Massener Hellweg 12, 59427 Unna, DE
Ostdeutsche Heimatstuben – Vertreibung von Deutschen aus den Ostgebieten
Bis heute wird das Thema der Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten kontrovers diskutiert. Es war und ist ein „Politikum“. Auf der einen Seite wurde über die Geflüchteten aus zum Beispiel Ostpreußen, Schlesien oder Pommern oft stillgeschwiegen, denn schließlich seien „die Deutschen“ durch die Nazi-Diktatur und Hitlers Angriffskriege selbst schuld an ihrem Schicksal. Sie trügen damit also eine Kollektivschuld, die „die Deutschen“ zu Recht zu bezahlen hätten. Auf der anderen Seite instrumentalisierten konservativ-rechte politische Kreise die geflohenen und vertriebenen Deutschen zu ihren Zwecken, um mit ihnen die deutsche Verantwortung an Krieg und Holocaust zu relativieren oder Gebietsrückgaben zu fordern. Die unterschiedlichen Sichtweisen bleiben bis in unsere Tage Teile der Debatte über die Bewertung der Flucht und Vertreibung der. So meinte der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog dazu: „Kein Unrecht, und mag es noch so groß gewesen sein, rechtfertigt anderes Unrecht. Verbrechen sind auch dann Verbrechen, wenn ihm andere Verbrechen vorausgegangen sind.“ Dem früheren polnischen Ministerpräsidenten Jaroslaw Kaczynski ging es 2008 auch – durchaus nicht unverständlich – darum, dass „Deutschland zu hundert Prozent Schuld am eigenen Vertriebenenschicksal trage“.
Etwa 12 bis 14 Millionen Deutsche waren aus dem Osten waren geflohen, vorwiegend Frauen, Kinder und ältere Leute. Ein Teil flüchtete bereits im Zuge der sowjetischen Rückeroberungen im letzten Jahr des zweiten Weltkriegs. Andere wurden nach den Gebietsverlusten und den neuen Grenzziehungen der Alliierten als Ergebnisse der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 systematisch vertrieben. Viele kamen auf der Flucht um. Die Zahlen der Opfer werden zwischen einer halben Million bis zu über 1,5 Millionen geschätzt: Von Soldaten massakriert oder durch den Beschuss von Flüchtlingstrecks oder -Schiffen. Sie erfroren oder starben an den Entbehrungen und Aufzehrungen. Tausende begingen auf der Flucht oder nach ihrer Ankunft im Westen Suizid. Aus Angst vor der Willkür der Sieger, aus Trauer um den Verlust der Heimat oder von Angehörigen, aus Angst vor einer ungewissen Zukunft oder der Diskriminierung an ihrem neuen Lebensort – ein Umstand der heute bei gegenwärtigen Fluchtopfern ebenfalls eine Rolle spielt.
Viele kamen traumatisiert in den Auffanglagern im Westen an. Sie lebten die ersten Monate und Jahre oft in Sammelunterkünften. Oder sie wurden zunächst dorthin verteilt, wo nach dem Bombenkrieg noch Wohnraum bestand, also vor allem in ländliche Regionen. Oft lebten sie in „Nissen-Hütten“ bezeichneten Blechbaracken. Das hatte weniger mit Läusen zu tun, sondern mit Peter Nissen, dem Namen des amerikanischen Erfinders dieser Unterkünfte. In die westlichen Besatzungszonen wurden knapp zwei Millionen Flüchtlinge jeweils nach Bayern und Niedersachsen verteilt, etwas gingen nach Nordrhein-Westfalen. Unna, genau genommen Unna-Massen, war mit seiner 1951 gegründeten Landesstelle für Aussiedler und Geflüchtete ein zentraler Ort der organisierten Durchreise und Weiterverteilung für Zehntausende von Vertriebenen aus dem Osten.
In die Stadt Unna kamen einige Tausende geflüchteter und Vertriebener. Die genaue Zahl derer, die längerfristig in der Stadt blieben, vor allem Menschen aus Schlesien und Ostpreußen, lässt sich nicht genau ermitteln. Zumal viele neue Arbeitskräfte wegen des Industriebooms ins Ruhrgebiet und auch nach Unna übersiedelten. Allerdings hier nicht mehr durch Behörden gesteuert, sondern auf eigene Initiative hin. Ob sie ehemalige Vertriebe waren lässt sich nicht rekonstruieren, da diese Daten nicht mehr registriert wurden. Jedenfalls trafen sie auf schwierige soziale Verhältnisse vor Ort: Von manchen Unnaer*innen wurden sie freundlich und mit Hilfsbereitschaft aufgenommen, die meisten ignorierten ihre Fluchtgeschichten und kümmerten sich um die Bewältigung des Alltag, wie die einst geflüchteten Neubürger*innen auch.
Die Zeitzeug*innen, die als Erwachsene Flucht und Aufnahme hier in Unna erlebten, leben heute nicht mehr. Jene, die aber als Kinder und Jugendliche kamen lassen sich noch befragen und erinnern sich. Gertrud Kramer zum Beispiel. Sie kann sich an ihren Geburts- und Lebensort in Schlesien kaum erinnern. Sie war damals erst knapp vier Jahre alt. An die Flucht zusammen mit ihrer Mutter und der älteren Schwester besitzt sie jedoch schemenhafte Eindrücke. Diese haben mit Kälte und Hunger und Dunkelheit zu tun. Mit einem Nichtverstehen, was überhaupt passierte und mit der Angst die sie empfand, weil sie spürte, dass ihre Mutter furchtbare Angst hatte. Über einige Umwege kam sie in den späten 1940er Jahren in einem Dort im katholischen Siegerland unter, wo sie einige Jahre lebte und zunächst zur Schule ging. „Das waren keine schönen Zeiten“, erzählt Getrud, „ich und meine Schwester waren gleich mehrfach gestraft – als Flüchtlinge, als Evangelische und als Vaterlose. Aber was konnten wir dafür?“. Tatsächlich geriet Getruds Vater als Soldat in russische Gefangenschaft – aus der er übrigens nie zurückkehren sollte. Und Gertrud weiter: „Wir waren bei einem Bauern untergebracht. In einem kleinen Zimmer. Dem schlechtesten Raum auf dem Hof. Die Leute im Dorf waren irgendwie immer gegen uns. Die meisten ließen uns einfach in Ruhe, aber es gab welche, die uns beschimpften. Sie sagten Polacken zu uns. Geht doch dahin zurück, wo ihr hergekommen seid, sagten sie“. Besonders gut kann sie sich an einen Sonntag erinnern, als sie mit ihrer Schwester draußen spielte: „Da kamen die Familien vorbei, die zum Gottesdienst wollten (in die katholische Kirche). Wir guckten einfach zu. Ja, die Kinder, die hinter ihren Eltern herliefen, nahmen dann einfach Steine und bewarfen uns. Scheiß-Flüchtlinge haben die gerufen. Die Eltern haben nichts dagegen gemacht. Die haben gelacht.“
Gertrud zog dann später mit ihrer Familie nach Herne, wo sie eine Ausbildung machte und schließlich nach Unna, wo sie viele Jahre lebte: „Hier im Ruhrgebiet“, meint sie, „gab es dann kaum noch blöde Sprüche und Anfeindungen mehr“. Eine ähnliche Erfahrung machte auch der in Ostpreußen geborene Bruno Romeiks, der 2015 für den Lokalkompass in Unna befragt wurde. Er machte eine Ausbildung als Bergmann in Unna und erlebte dort die Werte von Gleichheit und Zusammenhalt der Kumpel: „Die Kameradschaft unter Tage war groß, da gab es keine Ausgrenzung.“ Oder wie es das Sprichwort sagt: „Woher jemand kommt ist nicht wichtig – unter Tage sind alle schwarz!“
Was Getrud Kramer heute noch stört: „Ich kann es nicht verstehen, dass Leute in meinem Alter heute über die Flüchtlinge schimpfen. Über die Syrer zum Beispiel. Die haben wohl vergessen, was wir selbst auf dem Treck aushalten mussten und als wir hier ankamen!“
Nr. 30 Saline Königsborn (heute Mühle)
Friedrich-Ebert-Straße 97, 59425 Unna, DE
Saline Königsborn, Migration, Salzgewinnung und Handel
Symbolisch für die Migrationsgeschichten dieser Fluchtwege-Station steht die Windmühle von Königsborn. Naja, eine Windmühle ist oder war sie nie, denn es gab hier nichts zu mahlen. Tatsächlich ist es eine sogenannte Windpumpe, die einst das salzhaltige Wasser, „Sole“ genannt, aus den Tiefen Königsborns an die Oberfläche beförderte. Und genau darum geht es: Um Salz. Und dieses Salz hat auf die eine und andere Art und Weise Menschen von Nah und Fern zusammengeführt. Übrigens wurde die Windpumpe, vor der sie stehen, im Jahr 1750 gebaut bzw. in Betrieb genommen. Ihre Basis aus Stein ist noch original und stellt eine der wenigen noch erhaltenen Relikte aus der Zeit der Salzgewinnung in Unna dar.
Salz ist ein absolut lebensnotweniger Grundstoff für den Menschen. Ohne eine ausreichende Zufuhr von Salz können Menschen nicht existieren. Und Salz war und ist das wichtigste Produkt, um Nahrungsmittel über längere Zeit haltbar zu machen und Vorräte anlegen zu können. Im Prinzip ist das auch heute nicht anders. Wurst- und Fleischwaren, Gemüsekonserven bis hin zu Fruchtsäften und Süßigkeiten enthalten Salz zum Zweck der Konservierung und für einen „kräftigen“ Geschmack. Zudem enthalten fast alle Vorproduzierten Speisen aus dem Supermarkt reichlich Salz. So benötigen heute die meisten Verbraucher für die Küche nur wenig zusätzliches Salz. Und das ist auch noch extrem preiswert. Ein Pfund hochreines Salz kostet, mit Stand 2022, kaum mehr als 30 Eurocent im Discount. Im Großhandel ist der Preis noch geringer. Die industrielle Gewinnung und Verarbeitung macht das möglich.
So wird in heutigen Zeiten Salz als Produkt kaum wahrgenommen und geschätzt. In vergangenen Zeiten war das anders. Vor 150 Jahren kostete ein Pfund Salz (nach heutiger Wertmaßstäben gerechnet) nicht 30 Cent sondern zwischen vier und zehn Euro. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit hätte der Preis um die 50 bis 200 Euro gelegen. Salz war also früher sehr viel wertvoller als heute – das sprichwörtliche „weiße Gold“. Es war selten, denn es wurde nur an bestimmten Orten gefunden oder produziert. Beispielsweise aus Meersalz, was lange dauert. Oder aus Steinsalz in bestimmten Gebirgen und unter großem bergmännischem Aufwand. Die absolut beste Qualität von Salz jedoch konnte aus Sole erzielt werden, also aus Grundwasser, das Kontakt zu unterirdischen Salzstöcken hat und oberirdisch auf natürliche Weise oder durch kleine Grabungen oder Bohrungen austritt. In Gebiet des heutigen Unna-Königsborn war das der Fall.
Im Mittelalter soll es Königsborn, das damals noch Brockhausen genannt wurde, um die 60 salzhaltige Quellen gegeben haben. Aus diesen schöpften die Handwerker*innen die Sole mit Gefäßen ab und erhitzten die Flüssigkeit in Metallgefäßen so lange, bis das wertvolle Salz übrig blieb. Salzsieden nannte man das. Und der Beruf des Salzsiedens war geboren. Die Arbeiter*innen dieses Gewerbes wurden in Westfalen auch „Sälzer“ genannt. 1389 werden die Sälzer von Unna das erste Mal genannt. Und zwar in einer Urkunde, die sie zu Unnaer Stadtbürger*innen hoch aufwerteten. Es muss die Salzsiederei aber schon längere Zeit gegeben haben.
Um in Königsborn (oder Brockhausen) die Salzgewinnung zu steigern mussten Arbeitskräfte her. Und Fachkräfte wuchsen damals wie heute nicht aus dem Boden. Wir können uns durchaus ein Bild davon machen, wie viele Menschen in diesem Handwerk beschäftigt waren. Aus Unna liegen uns zwar keine Zahlen vor. Im nahen Werl, das ebenfalls Salz in vergleichbarem Umfang produzierte, haben sich aber uralte Aufzeichnungen aus dem 13. Jahrhundert erhalten. Demnach können wir davon ausgehen, dass in Königsborn vielleicht 40 oder 50 Familien in der Salzsiederei arbeiteten. Hinzu kamen noch weitere Arbeitskräfte im Transport und vor allem in der Holzwirtschaft, denn Salzsieden verbrauchte Unmengen von Holz als Brennstoff. Insgesamt waren wohl zwei- bis dreihundert Menschen beschäftigt, was etwa ein Viertel oder Drittel aller Handwerksbeschäftigten ausmachte. Viele von ihnen waren zugewandert als Arbeitsmigrant*innen aus anderen Teilen Westfalens oder kamen noch von weiter her.
Die Salzgewinnung war lukrativ. Unna wurde zu einer wohlhabenden Stadt. Und das Salz zog auch Kaufleute und Fernhändler der Hanse an. Es war wie ein Magnet, was Menschen von Nah und Fern anzog – es machte Unna geradezu „international“. 1489 stiegen die Unnaer Salzsieder zu „Erbsälzern“ auf und werden damit zu reichen Stadtpatriziern, die fast dem Adel gleichgestellt und wahrscheinlich sogar um ein Vielfaches vermögender waren als Edelleute. Die Salzsiederei und ihre Zunft blühten und gediehen und lockten Wandergesellen aus der Fremde an. An den Fluchtwege-Stationen 10 und 20 erfahren Sie übrigens mehr zur Hanse und den Wandergesellen.
Die Expansion der Salzgewinnung ging in den folgenden Jahrhunderten weiter. Im Jahre 1600 kaufte der damalige Bürgermeister von Unna namens Winhold von Büren einen Teil des Salzgewerbes auf und vereinigte es praktisch mit den Interessen der Stadt. Er ließ die ersten Gradierwerke errichten, die mit ihrer Technik den Salzgehalt der Sole steigerten und den Brennholzverbrauch senkten.
Der gute Ruf und die hohen Gewinne der Salzproduktion waren mittlerweile durch halb Mitteleuropa gedrungen und riefen eine aufsteigende fremde Macht auf den Plan: Preußen! Der aufsteigende Staat weit im Osten mischte sich in Märkische Wirtschaftsangelegenheiten seit den 1680er Jahren in Unna ein. In geschickter „Salamitaktik“ traten sie hier als Geldgeber für neue Soleerschließungen auf, kauften sich dort in Sälzerfamilien ein und schickten preußische Experten nach Königsborn, um Produktion und Vertrieb zu optimieren. Eine für viele Bürger*innen der Stadt unerhörte Angelegenheit, denn die Preußen waren im damaligen Verständnis „Ausländer“. 1734 sorgten die Preußen für die Erschließung einer neuen Quelle, die sie dann „Königs Born“ nannten. Somit prägte der Preußenkönig, zu dessen Ehren das geschah, nun auch die Stadt mit seinem Namen. 1745 war es dann endgültig soweit. Die Preußen hatten die Unnaer Sälzer und die Stadtoberen mit Kaufsummen und Versprechen derart „weichgekocht“, dass sie nun die Salzsiederei komplett übernahmen – ein Vorgang der heute mit der Übernahme deutscher Unternehmen durch den chinesischen Staat vergleichbar wäre.
Die Preußen jedenfalls bauten die Salzproduktion weiter aus. 1750 wurde die Windpumpe über einer neuen Solebohrung errichtet. So konnte das salzhaltige Wasser auch aus größeren Tiefen hochbefördert werden. 1799 folgte dann eine „Feuermaschine“, also eine Dampfmaschine, die die Pumpen noch effektiver antreiben konnte. Sie war die erste Dampfmaschine dieser Art in Westfalen überhaupt. Aber nicht nur um moderne Technik kümmerten sich Preußen. Sie holten sich auch „eigene“ Arbeitskräfte nach Unna, die sie vermutlich enger an sich binden konnten, als die traditionellen Unnaer Beschäftigten. 1770 gründeten sie die „Colonie“ Königsborn mit eingewanderten, preußentreuen Handwerkern aus ostdeutschen Gebieten.
Die Salzgewinnung und Vertrieb blieb eine wichtige Einnahmequelle der Stadt. Salz blieb wichtig und wirtschaftlich attraktiv, da auch mit der Salzsteuer wichtige Einnahmen erzielt werden konnte. So war für das junge deutsche Kaiserreich 1872 die Salzsteuer tatsächlich jene Steuer, die damals den größten Anteil aller Steuereinnahmen ausmachte. Als in Königsborn Steinkohle gefunden wurde, mischte sich ein damals noch junger Industriepionier in Unna ein: Friedrich Grillo. Der findige Grillo, selbst Spross einer italienischen Einwandererfamilie, über den sie bei Station drei mehr erfahren können, bündelte Vermögen und Einfluss und kaufte den Preußen das komplette Salinengebiet ab. Für damals unfassbar viel Geld: 300.000 Taler!
Grillos Investition lohnte sich auf doppelte Weise. Einerseits erschloss er von Königsborn aus die Kohlefelder und ließ Zechen bauen. Das zog zunächst Bauleute und anschließend neue „Kumpel“ an, Wohnsiedlungen für Zechenarbeiter wurden gebaut und die Erste Einwanderung schlesischer und schließlich auch polnischer Bergleute begann. Aber nicht nur das. Er sorgte auch dafür, dass das Königsborner Salz nun eine andere Zweckbestimmung bekam. Und zwar zum Baden! Solebäder wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts als Heilmittel und ihre Orte als Kurbäder sehr beliebt. Und so wurde aus Königsborn nun „Bad Königsborn“.
Zwischen 1860 und den 1920er Jahren erlebte Königsborn ein wahren Bauboom. Villen, Pensionen, Kurhotels, Hallenbäder und begleitende Kultureinrichtungen im Stile des Historismus entstanden in schneller Folge. Hunderte von Arbeitskräften auch aus Osteuropa zogen nach Unna und in Umgebung, um die Bauarbeiten zu erledigen. Andere zogen als Dienstpersonal in die blühende Gemeinde, denn jährlich kamen bis zu 2.000 Dauerkurgäste, die versorgt werden mussten.
Wahrscheinlich war Unna und Königsborn damals eine der „internationalsten Städte“ im Ruhrgebiet überhaupt, in den Menschen aus vielen Gegenden Deutschlands und Europa Lohn und Brot fanden. Das Versiegen der Solequellen und der Steinkohleflöze, der Abschwung des Bädertourismus in den 1920 Jahren sowie die NS-Herrschaft und der Krieg beendeten schließlich diese Zeit, aus der nur noch wenige Hinterlassenschaften, wie eben jene Windpumpe, noch erhalten sind.
Nr. 33 Bahnhof Unna
Bahnhofstraße 74, 59423 Unna, DE
Bahnhof Unna – frühe Arbeitsmigration und Zwangsarbeit in Unna
Als der Bahnhof Unna 1855 gebaut wurde gab es Deutschland noch gar nicht. Er war Teil der Königlich-Westfälischen Eisenbahn, also Teil des Preußischen Eisenbahnstreckennetzes. Bereits 1833 war diese Preußische Strecke von Dortmund nach Soest geplant gewesen – also in einer Zeit, in der die Preußen selbst noch nicht lange ihre Herrschaft in dieser Gegend ausübten.
Mit dem Ende der „Franzosenzeit“, also der Niederlage Napoleons, wurde Europa unter den damaligen Siegermächten neu aufgeteilt. Fast ganz Westfalen ging damals an die „Preußen“. Auch die Grafschaft Mark und damit Unna. Die Unnaer Bürger*innen waren davon sehr angetan und es wird berichtet, dass die Bevölkerung begeistert Umzüge veranstaltet haben sollen, um den Machtwechsel zu feiern. Das hatte vorwiegend zwei Gründe: Erstens war die Grafschaft Mark und Unna seit über hundert Jahren politisch mit Brandenburg-Preußen verbunden und verbündet gewesen. Zweitens waren die Unnaer*innen, genau wie die Preußen, evangelischer Konfession. Die „richtige“ Religion zu haben, gemein ist die christliche Konfession: Das machte zu dieser Zeit eine Menge aus. Um den Unterschied zu verdeutlichen: Weiter nördlich im Kreis in Unna, nämlich in Werne, wurden die Preußen als fremde „ausländische Besatzungsmacht“ empfunden. Noch schlimmer war es in den angrenzenden ländlichen Gemeinden. Dort gab es praktisch nur eine Handvoll Protestanten. Und diese waren: Der Dorfpolizist, der Schulmeister, der Postmeister und so weiter. Hier wurden preußische Beamte tatsächlich als eine Art „regierungstreue Besatzungstruppe“ eingesetzt, die das amtliche Leben regelten und den Katholiken auf die Finger schauten. Noch gut fünfzig Jahre später, im deutschen Kaiserreich Ende des 19. Jahrhunderts beklagten sich Kaiser Wilhelm der zweite und die Berliner Regierung, dass die westfälischen Landkatholiken noch immer keine „richtigen Deutschen“ geworden seien und mehr auf den Bischof (in Münster) und den Papst in Rom hören würden.
Aber zurück zu Bahnhof nach Unna. Sein Bau und der Bau der Bahnlinie nach Soest gingen nicht ohne die Beteiligung von Arbeitsmigrant*innen von statten. Das Ruhrgebiet war noch keine Industrielandschaft wie Jahrzehnte später. Facharbeiter im Gleis oder Brückenbau mussten also aus anderen Gegenden und Ländern angeworben werden. Zum Beispiel aus Frankreich und aus Polen. Wie viele es genau waren, ihre Namen und die Ortschaften aus denen sie kamen – das wissen wir heute nicht mehr. Aber Migrant*innen aus etlichen Ländern gehörten zu den Erbauern des Bahnhofes in Unna und seiner Eisenbahnwege.
Bleiben wir beim Thema Eisenbahn und bleiben wir bei Migrant*innen, die in Unna für Mobilität sorgten. Wobei der Begriff „Migrant*innen“ eigentlich falsch ist, weil Zwang dahinter stehen wird.
Nach dem Bau des Bahnhofes kamen in den kommenden Jahrzehnten weitere Eisenbahnstrecken hinzu. Eine „Mittelding“ aus Straßenbahn, Stadtbahn und Eisenbahn führte zum Beispiel mitten durch die Stadt nach Süden. Eine andere Strecke verband den Bahnhof Unna mit Werne. Diese Strecke führte über Kamen. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts benutzten bis zu drei Millionen Fahrgäste allein nur diese Verbindung im Jahr. Das ist vergleichbar mit Zahl aller Fahrgäste auf allen Strecken, die heute von Bahnhof Unna aus bedient werden. Als im Verlauf des Ersten Weltkriegs immer mehr Eisenbahner als Soldaten eingezogen wurden, drohte der Bahnverkehr zusammenzubrechen. Die Strecke über Kamen nach Werne hatte damals mehr als einhundert Bedienstete, deren Zahl sich damals kriegsbedingt halbierte. Eine Einstellung des Bahnverkehrs drohte. So stellte die Bahn – damals völlig unüblich – Frauen als Schaffnerinnen ein. Für die Arbeiten im Rangierbetrieb, der Wagenkopplung, für Schienenarbeit und anderes mehr wurden hingegen nun Kriegsgefangene herangezogen: Aus Frankreich, Russland, Belgien, Italien und England. Was wir für die Strecke nach Werne heute recht genau wissen, kann auch für die anderen Zugstrecken von Unna aus angenommen werden. Und so dürften mehrere Hundert Kriegsgefangene bis zum Kriegsende 1918, anfänglich wohl unter schwerer Bewachung, ihre harte Arbeit geleistet haben müssen. Möglicherweise kamen diese gezwungenen neuen Eisenbahner aus den Kriegsgefangenenlagern bei Münster, wo über 90.000 von ihnen kaserniert wurden. Von einigen ist auch dokumentiert, dass sie in den Zechen in Hamm und auch in Unna-Königsborn arbeiten mussten. Ob manche aus dem nahen Lager aus Werl nach Unna geschickt wurden ist nicht bekannt. Ob und wo genau die Gefangenen auch in Unna selbst in diesen Jahren untergebracht waren, wer diese Menschen waren, was sie erlebt und erduldet haben – diese fast vergessene Geschichte ist bis heute noch nicht geschrieben worden.
Nr. 34 Ehemalige Kaserne
Am Südfriedhof 29, 59423 Unna, DE
Ehemalige Houthulst-Kaserne, belgische Militärangehörige in Unna
Die Toreinfahrt, vor der Sie stehen, markiert ein ehemaliges Kasernengeländes, das sich hier befand. Außer einigen zu Wohnhäusern umgestalteten Bauten an der Iserlohner Straße gibt es keine Relikte der einstigen militärischen Nutzung mehr. Wenn Sie die breit angelegte Bertha-von-Suttner-Alle hinter der Toreinfahrt entlanggehen, dann folgen Sie übrigens der früheren Hauptachse der Kaserne, an der die wichtigsten Militäreinrichtungen lagen.
Von 1946 bis 1956 lebten hier bis zu 800 belgische Soldaten, teilweise gehörten auch ihre Familien dazu, die aus ihrer Heimat nachgezogen waren. Damals hieß die Militäreinrichtung „Houthulst“-Kaserne, benannt nach einer kleinen Gemeinde in Flandern.
Auch wenn an diesem Standort die „belgische Geschichte“ Unnas im Fokus steht, so muss dennoch kurz die ganze Geschichte dieses Ortes erzählt werden. Ursprünglich wurde die Kaserne nämlich im Auftrag der NS-Führung bereits 1939 fertiggestellt und diente als Standort mehrerer SS-Einheiten. Schon damals kamen – erzwungenermaßen – Menschen aus anderen Ländern an diesen Ort. Die SS hatte nämlich etwa 60 Zwangsarbeiter, mehrheitlich aus Polen und Russland, hierhin deportiert. Diese wurde zu Bauarbeiten herangezogen und wahrscheinlich dürften etliche dabei umgekommen sein. Genaueres wissen wir heute nicht mehr.
Nach Ende der Kampfhandlungen mit dem amerikanischen Militär im Frühjahr 1945 besetzten die nachrückenden britischen Truppen die Stadt Unna und requirierten nicht nur öffentliche und private Gebäude der Stadt für ihre Zwecke, sondern auch die Kaserne, die nun „Sheffield-Barracks“ heißen sollte. Zunächst zogen jedoch weniger britische Soldaten in die Unterkünfte ein, sondern ehemalige ungarische Fremd- und Zwangsarbeiter*innen. Von hier aus wurden sie später in ihr Heimatland zurückgeschickt – teilweise auch unter Zwang deportiert. Etliche der Ungar*innen fürchteten sich nämlich vor einer Rückkehr des nun im sowjetkommunistischen Machtbereich liegenden Landes und wollten sich nicht von der einen Diktatur in die nächste begeben.
Im November 1945 stattete der britische Oberbefehlshaber der Besatztruppen, Feldmarschall Montgomery, Unna bzw. den Sheffield-Barracks einen kurzen Inspektionsbesuch ab. Und kaum ein Jahr später wurden die britischen Einheiten nach Soest verlegt. Die freigewordene Kaserne wurde am 6. Oktober 1946 dem Belgischen Militär übergeben. Zwar war Belgien keine „offizielle“ Besatzungsmacht in Westdeutschland, aber es war im Zweiten Weltkrieg Kriegsteilnehmer gegen die Nazis und bekam nun, ähnlich wie Kanada, einen Teil der Britischen Besatzungszone als eine Art „Unterbesatzungszone“ zugeteilt – einen schmalen Streifen von Aachen bis Kassel, in dem eben auch Unna lag. Der Grund dafür war weder ein politischer noch ein militärstrategischer. Tatsächlich waren die ökonomischen und personellen Verhältnisse des britischen Militärs sehr beschränkt und es wurde in der Nachkriegszeit an vielen Orten des zerbröselnden Kolonialreichs dringend benötigt.
Am 6. Oktober 1946 wurde die Kaserne an das belgische Militär übergeben. Und von Beginn an entwickelte sich das Verhältnis zwischen der Stadt Unna und seinen Bürger*innen zu den belgischen Truppen nicht besonders gut. Und „nicht besonders gut“ stellt hier noch eine Untertreibung dar. Es war katastrophal schlecht. Grundsätzlich lag das daran, dass die Deutschen, und die Unnaer bildeten da keine Ausnahme, sich nicht etwa vom Faschismus befreit fühlen, sondern sich als „Verlierer“ sahen, die nun von „unverschämten“ Besatzungstruppen drangsaliert wurden. Freilich ging die belgische Besatzungsmacht in Unna auch nicht zimperlich vor. Im Dezember 1946 begann Sie, nach dem Einzug in die Kaserne, auch Häuser und Wohnungen von Unnaer Bürger*innen zu beschlagnahmen und plante deren Bewohner in der Aktion „Transplant“ zu deportieren. 238 Menschen sollten in mehreren Schüben nach Wiedenbrück zwangsumgesiedelt werden. Die Bürger*innen protestierten, der neu formierte Stadtrat appellierte an die Belgier, dies zu unterlassen. Erst als sich die Aufnahmestadt Wiedenbrück zu Wort meldete und sich beschwerte, doch keine „Strafkolonie“ für Unnaer Bürgerinnen zu sein, ließ das das belgische Militär langsam von seinem Plan ab. Auch das Unnaer Stadtparlament hatte „schärfsten Protest“ erhoben, wie es in der Presse dann zu lesen war. Es befand die Vorgehensweise der Besatzungsmacht sei nicht geeignet, „das deutsche Volk mit der Demokratie zu befreunden und es zu einem friedlichen Partner innerhalb eines befriedeten Europas zu machen“. Ein interessantes Statement übrigens, wenn man bedenkt, dass die Stadt kaum zwanzig Monate zuvor „Endsieg und totalen Krieg“ propagierte.
Die belgischen Truppen requirierten weiter Wohnraum und Büroflächen. Wenn auch in langsamerem Tempo und unter Verzicht von Abschiebungen der Unnaer Bevölkerung. Ein weiteres Ereignis prägte sich dann in das Gedächtnis der Menschen in Unna und der nahen Umgebung ein. In Bergkamen sollten die wieder aufgebauten Chemischen Betriebe im Juni 1949 als Kriegsreparationsleistung demontiert und nach England verschifft werden. Die Chemiearbeiter*innen weigerten sich. Sie besetzten kurzerhand ihren Betrieb und vertrieben den Demontagetrupp. Dieser rief die zuständige Besatzungsmacht, eben jenes belgische Militär aus Unna, zu Hilfe. Und diese kamen mit Panzerfahrzeugen aus ihrer Kaserne herangeeilt. Mit aufgepflanzten Bajonetten drohten sie den Besetzer*innen mit der Todesstrafe, sollten diese nicht sofort abziehen. Erst in Eilverhandlungen von deutscher Politik, Gewerkschaft und der Führung der Besatzungsmächte und unter Anteilnahme der internationalen Öffentlichkeit, immerhin war ein paar Tage zuvor erst die Bundesrepublik als neuer Staat gegründet worden, wurde von den Reparationsabsichten abgesehen und die belgischen Truppen kehrten zurück in die Kaserne nach Unna.
In den folgenden Jahren verbesserte sich die Beziehung zwischen den Belgischen Truppen und den Bürger*innen der Stadt ein wenig. Der wesentliche Grund dafür war: gegenseitiges Ignorieren. Nach und nach zogen belgische Familienangehörige zu ihren Soldaten. Im Bereich rund um die Kaserne entstanden Kindergärten, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten und soziale Einrichtungen für die Belgier*innen. Deutsche hatten entweder keinen Zutritt oder wollten diesen auch gar nicht haben. Die Belgier*innen lebten in einer eignen kleinen Welt und die Unnaer*innen nannten den neu entstandenen Stadtteil im Südosten alsbald „Klein-Belgien“. Persönliche Beziehungen zwischen den Menschen entwickelten sich kaum. Die Unnaer Presse schlachtete jeden Zwischenfall zwischen Belgier*innen und Unnaer*innen durchaus gerne aus – ob es nun um eine eher harmlose Schlägerei unter Betrunkenen oder einen Diebstahl ging.
Das teilweise distanzierte, grobe und tatsächlich oft wenig kooperative Verhalten der belgischen Truppen hatte aber einen Grund, der heute fast vergessen ist. Gerade Belgien hatte unter den Deutschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert besonders zu leiden. In gut 25 Jahren wurde Belgien in zwei Kriegen durch deutsche Truppen überfallen, besetzt und teilweise schwer verwüstet. Während der Nazi-Besetzung wurden rund 440.000 Belgier*innen zur Fremd- und Zwangsarbeit für die Deutschen gepresst. Ja, wir müssen an mit Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass manche Soldaten der belgischen Besatzungstruppen in Unna oder in der Umgebung nur wenige Jahre zuvor Zwangsarbeit bei Krupp oder den Unnaer Messingwerken leisten mussten. Auch der Name „Quartier Houthulst“, den die Belgier für ihre Kaserne auswählten, weißt übrigens auf das Leiden der Belgier im Ersten Weltkrieg hin. Dieser Ort markiert nämlich eine kleine Ortschaft mitten im Frontbereich der Ypern-Schlachten hin – eine Gegend, die die Deutschen komplett verwüsteten und in eine Mondlandschaft verwandelten.
Erlittenes Unrecht wird durch neues Unrecht nicht ausgeglichen. Gewiss. Und letztlich geht es vielleicht nur darum, die Gefühle und Motive der Belgier*innen zu verstehen. Nicht etwa zu rechtfertigen. Freundinnen und Freunde wurden die Belgier*innen und Unnaer*innen leider nie. Es entwickelten sich selten neue Familienbande. Und längere Kontakte kamen zwischen ihnen nicht zustande, als im Jahr 1956 die letzten Belgier*innen ihren Standort in Unna verließen.
Nach fast einer Dekade belgischer Präsenz übernahm die neu aufgestellte Bundeswehr schließlich die Kaserne. Als „Hellweg-Kaserne“ blieb sie noch Jahrzehnte in Betrieb, bis sie im Jahr 2001 aufgelöst und das Gelände an die Stadt Unna übergeben wurde.
Nr. 35 Philia Deutsch-Griechischer Verein Unna e.V.
Massener Straße 14, 59423 Unna, DE
An dieser Station finden Sie den deutsch-griechischen Verein „Philia“. Das griechische Wort „Philia“ bedeutet so viel wie „Liebe, Zuneigung“ aber auch „Freundschaft“ – Liebe und Zuneigung also zum Heimatland und seiner Kultur, aber auch zu Deutschland und Unna – und Freundschaft eben zwischen den Menschen hier und dort. „Fluchtwege“ nimmt diese Station zum Anlass, hier die Geschichte der griechischen Einwanderung seit den 1960er Jahren zu erzählen und sich damit auch erneut dem Stichwort „Gastarbeiter“ zu widmen. Allerdings trifft dieser Begriff „Gastarbeiter“ für griechische Einwander*innen nur teilweise und in vielen Fällen überhaupt nicht zu. Der Grund dafür liegt in einem – leider weitgehend vergessenen oder verdrängten – Kapitel der europäischen Nachkriegsgeschichte.
Aber zunächst tatsächlich zur Einwanderung von vorwiegend griechischen Männern in den frühen 1960er Jahren: Aufgrund des großen Arbeitskräftebedarf schloss die Bundesrepublik im Jahre 1960 mit Spanien und gleichzeitig mit der griechischen Regierung einen Anwerbeabkommen ab. Nach Italien (1955) waren somit Arbeitskräfte aus Griechenland mit die ersten neuen ausländischen Kolleg*innen hier vor Ort in Kohle, Stahl und Co. Bis 1962 kamen bis zu 80.000 vor allem aus den ländlichen Regionen des Landes: Aus Thessalien, Makedonien oder der Peloponnes. Allerdings setzte bereits kurze Zeit später eine enorme Rückwanderungswelle ein. Bis 1965-66 waren die meisten „Gastarbeiter“ aus Griechenland schon wieder ausgereist. Viele konnten sich mit den vorgefundenen Arbeits- und Lebensbedingungen und den oft deutlich zu niedrigen Löhnen nicht anfreunden. In Unna wohnten viele von ihnen in engen Werksunterkünften oder in unsanierten Altbauwohnungen in Massen, Königsborn oder in Zentrumsnähe. Umso überraschender aus heutiger Perspektive zog plötzlich ein Jahr später, nämlich 1967, die griechische Einwanderung nach Deutschland wieder enorm an. Auf Spitzenwerte mit bis zu 100.000 Menschen jährlich.
Waren dafür nun bessere Löhne in der hiesigen Industrie der Auslöser? Keineswegs. Verantwortlich war der Putsch einer Militärjunta 1967 in Griechenland. Die sogenannte „Obristen-Diktatur“ aus rechtsnationalen und antimodernistischen Militärs. Sie verhaftete Tausende Sozialist*innen, Liberale, Gewerkschafter*innen, Journalist*innen. Wer auch immer ihnen suspekt war, steckten die „Obristen“ in Lager und Gefängnisse. Viele wurden auch außer Landes gedrängt und ihre griechische Staatsbüger*innenschaft per Gesetz entzogen. Etwas, was übrigens in Deutschland nicht möglich ist. Die Demokratie, die in Griechenland ihre uralten Wurzeln hat, wurde abgeschafft.
Viele der vermeintlichen „Gastarbeiter“ ab 1967 waren in Wirklichkeit also eher politische Flüchtlinge, die aus Angst vor Verfolgung auswanderten oder nicht gemeinsame Sache mit einem unterdrückerischen Regime in ihrem Heimatland machen wollten. Und wer in der Heimat „politisch“ ist, der bleibt es auch oft in der „Fremde“. So wundert es auch kaum, dass es griechische Einwander*innen waren, die im Ruhrgebiet erste Kulturvereine gründeten, in denen man auch offen über die politischen Entwicklungen in Griechenland sprechen konnte. Dort war dies nämlich verboten. Und viele Griechinnen und Griechen beteiligten sich auch recht früh gesellschaftlich in Deutschland: Fast jede eine größere Firma im Ruhrgebiet und natürlich auch in Unna hatte griechische Betriebsräte oder Gewerkschafter*innen.
Die Rückwanderung von Griech*innen hielt sich zunächst in Grenzen. Diese begann erst verstärkt 1974 – dem Jahr, in dem die Militärjunta – nach einer blutigen Niederschlagung von Studierenden-Unruhen in Athen und einen Putschversuch auf Zypern – sich nicht mehr halten konnten und gestürzt wurde.
Das Thema „Gastarbeiter“ spielte in den 1960er und 1970er Jahren kaum eine Rolle. Die wenigsten Deutschen interessierten sich für deren Leben und begrüßten den Anwerbestopp im Jahre 1974 mehr oder weniger offen. „Integration“ spielte in Politik und Kulturbetrieb eine geringe Rolle. Daher überraschte es, als 1975 ein Musikprodukt die Spitzenplätze der Hitparaden stürmte: nämlich Udo Jürgens „Griechischer Wein“. Es war das erste Mal, dass sich die deutsche Populärkultur überhaupt mit „Gasterbeitern“ nennenswert beschäftigte. Das für damalige Verhältnisse sozialkritische Lied, das auch auf Griechisch veröffentlicht wurde, beschreibt die Sehnsucht und das Heimweh griechischer „Gastarbeiter“. Es wurde ein Riesenerfolg. Auch politisch! Und das besonders in Griechenland, das sich mit dem Schicksal ihrer Ausgewanderten in der Fremde immer beschäftigt hatte. Als besondere Ehrung dafür, dass sich Jürgens mit den Problemen der „Gastarbeiter“ auseinandergesetzt hatte, wurden er und sein Songtexter Michael Kunze nach Athen eingeladen. Durch Konstantinos Karamanlis, dem ersten nach der Diktatur demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Griechenlands.
Zurück in die Gegenwart: Auch heute noch wandern viele Menschen aus Griechenland nach Deutschland ein. Von „Gastarbeitern“ spricht niemand mehr. Wie viele in den letzten Jahren in die Region und nach Unna gekommen sind ist schwer zu sagen. Die sogenannte „EU-Migration“ lässt sich statistisch in den Kommunen nur unzureichend erfassen. Dabei ist die Auswanderung aus Griechenland dramatisch! Seit Beginn der Finanzkrise in Griechenland 2009/2010 haben rund zehn Prozent aller Griech*innen, vor allem junge Menschen, ihr Land verlassen. Mehr als 170.000 kamen nach Deutschland…. Zeit für einen neuen Song?